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Betreff: Regionalgruppe Bergisches Land (Nordrhein-Westfalen)
Listenarchiv
- From: Olaf Wegner <pirat@thoth23.de>
- To: bergischesland Stammtisch <bergisches-land@lists.piratenpartei.de>
- Subject: [Bergisches Land] Archäologie der Zukunft von Michael Seemann
- Date: Wed, 06 Oct 2010 15:19:56 +0200
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/mailman/private/bergisches-land>
- List-id: "Ortsgruppe Bergisches Land \(Nordrhein-Westfalen\)" <bergisches-land.lists.piratenpartei.de>
- Organization: Piratenpartei
Hallo,
ich habe am Montag als ich von der #om10 und den dortigen Debatten und
Vorträgen zum Thema Post Privacy bzw. Datenschutz Vs. Post Privacy
berichtet habe, auch davon berichtet, dass ich mich als "ehemaliger"
harter Datenschützer in einer Phase der Neuorientierung zu diesem Thema
befinde.
Diese Phase der Neuorientierung, wurde vor knapp 3 Monaten durch den
unten folgenden Artikel von Michael Seemann in der c't ausgelöst.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, ich bin im Herzen immer
noch ein harter Datenschützer und ich werde im Rückzugsgefecht (siehe
Artikel) um jeden Millimeter kämpfen. Doch glaube ich langsam, dass
jeder Millimeter, den die Datenschützer verlieren, niemals mehr
zurückerobert werden _kann_ und was noch viel schlimmer ist, dass wir
Datenschützer schon viel mehr Land verloren haben als wir uns
eingestehen wollen oder können (Wer ist schon gerne frustriert und hat
Angst). Denn die Daten sind schon zugänglich, sie müssen in der Zukunft
nur noch ausgewertet werden. Und ich bin davon überzeugt, dass sie über
kurz oder lang -legal oder illegal- ausgewertet werden, ob wir wollen
oder nicht.
Ich würde mich freuen, wenn wir die Diskussion vom Montag am Donnerstag
am Stammtisch im Hayat weiter führen.
Grüße Olaf
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26.06.2010 00:00
Archäologie der Zukunft
Michael Seemann ist Blogger und Kulturwissenschaftler und lebt im
Internet und in Berlin.
Wenn die wachsenden Datenberge nur das einzige Problem wären. Ebenso wie
die Informationshalden wachsen die Möglichkeiten zu ihrer Verknüpfung,
verliert der Datenurheber mehr und mehr die Kontrolle. Die Lupe war
eines der wichtigsten Utensilien von Arthur Conan Doyles
kriminalistischen Helden Sherlock Holmes. Portabel und jederzeit
einsetzbar, diente sie ihm im täglichen Kampf für die Wahrheit. Denn
Spuren gibt es immer, wenn etwas passiert, man muss sie nur lesen
können. Die Lupe macht das eben noch Unsichtbare sichtbar. Nun gehören
zu den forensischen Verfahren der modernen Kriminalistik
Cäsiumzerfallsbestimmung und Rasterelektronenmikroskopie. Techniken, die
den Tatort in eine Halde voller Daten verwandelt haben.
Mit dem Staubsauger werden heute die kleinsten Partikel eingesammelt, um
sie im Labor nach Hautschuppen, Textilverunreinigungen und
Schmauchspuren zu untersuchen. Die Mengen an genetischem „Material“, das
die Labore zur Identifizierung benötigen, werden dabei immer geringer.
Aus den gewonnenen Daten können heute Tatabläufe exakt nachvollzogen
werden. Wie sehr hat der Täter geschwitzt, während er den Abzug drückte,
wann hörte das Herz des Opfers auf zu schlagen? Bitte mit Minutenangabe.
Was uns an Krimis aber am meisten fasziniert, ist nicht nur der Einsatz
überlegener forensischer Technik, sondern vor allem die logische
Kombinationsgabe der Protagonisten. Die Technik und die kalte
Rationalität des kriminalistischen Geistes machen die Faszination der
Kriminalromane aus: beispielsweise wie Holmes unscheinbare Details in
den Aussagen mit scheinbar nebensächlichen Beobachtungen an den Tatorten
kombiniert und so die logischen Inkonsistenzen in den Alibis der
Verdächtigen identifiziert. Erst in der Kombination der jeweils für sich
stehend unscheinbaren Puzzleteile eines Falls, werden die Daten zu
mächtigen Zeugen der Anklage.
Verknüpfungen:
Während die Lese- und Messinstrumente immer besser wurden, hat sich auch
die Kombinatorik technisch weiter entwickelt. Als Ted Codd mit seinem
Team die Relationale Datenbank entwickelte, hatte er zunächst im Sinn,
die Benutzbarkeit von Datenbanken aus den Händen der IT-Experten zu
nehmen, um sie denjenigen in die Hand zu geben, die sie wirklich
brauchen: Wissenschaftler, Manager und Verwaltungsangestellte. Dazu
führte er mit SQL eine Abfragesprache ein, mit der jeder beliebige
Anwender eine dem Englischen entlehnte Syntax zur Verfügung hatte, um
selbst komplexeste Abfragen zu formulieren.
Um eine „vorrelationale“ Datenbank benutzen zu können, musste man sich
nicht nur mit den kryptischen Befehlssätzen dieser Systeme, sondern auch
in den meist sehr komplizierten, hierarchischen Baumstrukturen ihres
Aufbaus auskennen. Relationale Systeme sind anders organisiert: Die
Ordnung der Daten wird hier erst während der Abfrage geschaffen. Zur
Zeit der Speicherung lagern die Daten eher ungeordnet als bedeutungslose
Entitäten in den Tabellen. Mit SQL kann man nun bestimmen, welcher
Datensatz, kombiniert mit welcher Eigenschaft, gefiltert durch welche
Einschränkung in welchem Format ausgeben werden soll. Die Ordnung und
damit die Bedeutungsgenerierung emanzipiert sich vom Zeitpunkt der
Speicherung und steht im Moment der Abfrage voll zur Verfügung.
Diese Umkehr der Interpretationsmacht verwandelt einen Datensatz in mehr
als eine Ansammlung von Zeichen. Ein Datensatz wird zu einem tendenziell
unendlichen Möglichkeitsfeld von neuen Kombinationen mit anderen
Datensätzen. Wie Sherlock Holmes durch seine geschickte Kombinatorik den
Täter als „Autor des Tatorts“ um seine Deutungshoheit bringt, so
entmachtet SQL den Zeitpunkt der Speicherung zugunsten seiner Abfrage in
der Zukunft. Datensätze, auch wenn sie heute für einen bestimmten Zweck
angelegt werden, tragen immer die Möglichkeit in sich, schon morgen
durch Verknüpfung mit neuen Daten ganz andere Aussagen zu treffen.
Die Entwicklung der forensischen Kriminalistik sowie ihrer geheimen
Schwesterwissenschaft, der Archäologie, führt so weit, dass vor ein paar
Jahren ein sehr alter Mordverdacht widerlegt werden konnte. Der Tod
Tutenchamuns war ein vermeintlicher Mordfall, der zur Zeit seines Todes
und die folgenden 3300 Jahre nicht geklärt werden konnte. Die
Todesursache entpuppte sich als Unfall; der Versuch, die Umstände seines
Todes mit heutigen Mitteln noch einmal nachzuvollziehen, ist der
vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die heute weit über das
archäologische und kriminalistische Feld hinaus führt.
Der Vergangenheit wird nicht mehr gestattet, vergangen zu sein, sondern
sie wird mit jedem Tag aktueller denn je. Aktueller, das heißt:
unmittelbar versteh- und analysierbarer – mehr noch als zu ihrem
damaligen „Jetzt“. Ein „Jetzt“ von vor über 3300 Jahren, dass aber
„unserem“ Jetzt in nichts mehr nachsteht, denn wir wissen so wenig von
den Datentechniken der nächsten fünf Jahre, wie Tutenchamun von den
heutigen wusste.
Aussagen:
Goggles, eine Applikation für Android-Telefone, kann durch die Kamera
des Handys Formen und Muster erkennen. Richtet man die Kamera auf einen
Baum, erkennt sie einen Baum, richtet man sie auf ein Produkt, werden
Produktinformationen eingeblendet. Die Gesichtserkennung ist derzeit
noch von Google deaktiviert. Solche Algorithmen sind allerdings bereits
in Apples iPhoto und in Googles Online-Fotodienst Picasa integriert:
Wenn man das Gesicht eines Freundes in seinen persönlichen Alben erst
einmal oft genug „getaggt“ hat, erkennt der Algorithmus das Gesicht auf
allen weiteren Fotos wieder. Die Technik ist noch verbesserungswürdig,
macht aber große Fortschritte.
Wer weiß schon, wie viele Fotos von ihm selbst im Netz existieren? Auf
Gruppenfotos von Partys, als zufälliger Passant auf der Straße? Wie
viele Bilder von uns in derzeit noch nicht öffentlich einsehbaren
Fotoalben und Archiven schlummern und wie lange es wohl dauert, bis auch
sie vom Internet verschlungen werden, oder auftauchen, weil zum Beispiel
Facebook seine Privatsphäreneinstellungen „angepasst“ hat? Wer – selbst
unter den Internetverweigerern – würde sich eine Einschätzung wohl
zutrauen?
Wir haben die Kontrolle verloren. Auch wenn wir heute davon nichts
wissen wollen und unsere Minister erboste Briefe an Facebook schreiben
und einige von uns meinen, dass ausgerechnet unsere Hausfassade das
letzte Residuum unserer Privatsphäre bleiben soll. Auch der Glaube, man
könne sich dem entziehen, indem man sich mit dem Internet nicht
beschäftigt, ist ein Trugschluss. Das Reden über die Welt lagert sich in
das Internet aus. Ist man Teil der Welt, dann wird man Teil des Internet
sein.
Die stetige Erfindung von neuen Mess- und Lesetechniken als auch die
ständig wachsenden Möglichkeiten zur relationalen Verknüpfung von
Datensätzen katapultieren all das, was wir vernünftigerweise heute als
Daten verstehen können, in eine ungewisse Zukunft. Weder wissen wir
heute, was morgen Daten sein werden, noch wissen wir, was Daten von
Heute schon morgen aussagen können.
Interpretationen:
Die Idee des Datenschutzes konzentriert sich darauf, welche Daten heute
gelesen und entziffert werden können. Wenn man weiß, welche Daten von
einem selbst existieren und was sie aussagen, kann man versuchen, den
Zugriff darauf zu kontrollieren. Die informationelle Selbstbestimmung,
wie sie das Bundesverfassungsgericht eingeführt hat, räumt jedem das
Recht ein, über den Zugang zu seinen Daten bestimmen zu dürfen. Auch
wenn schon damals bekannt gewesen sein dürfte, dass sich Mess- und
Analysemethoden verbessern, dass es Techniken zur Verknüpfung von Daten
gibt – der Horizont, innerhalb dessen Daten das blieben, was sie zur
Zeit der Speicherung waren, sah noch recht solide aus. Wir glaubten noch
zu wissen, dass eine Spur zu hinterlassen und sogar einen „Write“ in
eine Datenbanktabelle auszuführen, ein endgültiger Vorgang sei, der das
Feld seiner Interpretation von vornherein absteckt. Aber wir haben uns
geirrt. Die Spuren werden zu Daten und die Daten sind lebend
ig, übermorgen noch viel lebendiger als morgen.
Es geht also nicht um neue „Herausforderungen“ des Datenschutzes.
Datenschutz ist konzeptionell implodiert. Es ist sinnlos, auf dieser
Ebene weiter zu denken. Die Zahnpasta wird nicht in die Tube
zurückgehen, egal wie man sich müht. Das heißt natürlich nicht, dass man
jetzt alle Hüllen fallen lassen sollte. Datenschutz ist ein derzeit noch
notwendiges Rückzugsgefecht, das – aller Hilflosigkeit zum Trotz – noch
geschlagen werden muss. Jedoch ist es weder ratsam, sich darauf zu
verlassen, noch eine Zukunft darauf zu bauen.
Notwendig sind neue gesellschaftliche und kulturelle Infrastrukturen, um
mit der neuen Freizügigkeit umgehen zu können. Träte die Gesellschaft in
einer solchen Zukunft mit denselben Ansprüchen an das Individuum heran
wie bisher, zerriebe sie sich in Konflikten. Mit dem technischen Wandel
wird ein kultureller Wandel kommen müssen. Statt alles verstehen und
nachvollziehen zu wollen, müssen wir toleranter werden gegenüber den
nicht länger privaten Eigenheiten unserer Mitmenschen.
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/ct/artikel/Archaeologie-der-Zukunft-1029002.html
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- [Bergisches Land] Archäologie der Zukunft von Michael Seemann, Olaf Wegner, 06.10.2010
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