ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff: AG Gesundheit
Listenarchiv
- From: Jürgen Junghänel <junghaenel-hannover AT gmx.de>
- To: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
- Subject: Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe
- Date: Mon, 08 Dec 2014 00:57:48 +0100
- Importance: normal
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
- List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
Hallo Marcel,
Du hast mit Deinen Fragen das Problem richtig aufgerissen.
Die wichtigste Frage kommt am Schluss: möchten wir eine gesellschaftliche Veränderung in dieser Frage bewirken?
Der Wandel der Einstellung der Bevölkerung zum Suizid ist schon da. War er in meiner Jugend (bin 69) noch in christlicher Tradition geächtet, so ist er heute in der öffentlichen und veröffentlichen Meinung akzeptiert, wie man an den Reaktionen auf Prominentensuizide sieht. Undenkbar früher: auch die Hilfe zum Suizid ist schon straffrei!!!
Ich habe den Wandel der Einstellung der Bevölkerung zu Schwangerschaftsabbruch miterlebt und die nachfolgende Anpassung der Gesetzgebung an die öffentliche Meinung. Ja, das war ja früher in D strafbar.
Deshalb sehe ich bei der Hilfe zum Suizid absolut die Parallelität zu diesem Thema.
Früher im Dunkeln unter Strafbarkeit für Frau und Helferin geübt,
später durch Reisen der reicheren Frauen in andere Rechtsräume umgangen, wurde die Sache in einem Jahrzehnt etwa in eine akzeptiert Form gebracht: formal eine Indikationslösung, defacto eine Fristenlösung, wobei nicht mehr ethische Vorstellungen der christlichen Tradition sondern der freie Wille der Schwangeren entscheidet.
Freier Wille? Das wird hier noch nicht einmal groß überprüft.
Auch bei dem assistierten Freitod haben sich mit den Sterbehilfevereinen möglicherweise dunkle Zonen und Geschäftemacherei aufgetan.
Das wollen die meisten nicht und deshalb hatten wir die Bundestagsdebatte vom 13.11., die man bis vor einigen Tagen noch nachhören konnte, was jedem empfohlen sei, der sich mit diesem Thema beschäftigt.
Eine Menge Fragen betreffen die Messbarkeit von Motivation und Krankheit.
Alles nicht messbar, meine Meinung - und wieder kann ich mich auf die Entwicklung beim Schwangerschaftsabbruch stützen.
Deshalb bleibt nur, indikationslos den freien Willen des Bürgers zu akzeptieren, auch wenn er sich einer Hilfe für die Beschaffung eines geeigneten Mittels bedienen will.
Freier Wille? Bei Freiheit von psychischen Krankheiten, die den freien Willen einschränken, ist er gegeben, jedenfalls in der landläufigen Ansicht.
Meine Mutter hat verfügt, dass sie anonym beerdigt wird, damit meine Schwester und ich keine Mühe mit der Grabpflege haben.
Wenn jemand seinen Angehörigen nicht zut Last fallen oder zu Dank verpflichtet sein will, ist das für mich eine Angelegenheit, deren Ernsthaftigkeit niemand zu überprüfen hat.
Ja, das ist ungewohnt liberal
Ich hoffe, dass ich deine Fragen beantwortet habe.
Ach, die Kosten. Die trägt natürlich der Suizidant aus seinem Vermögen. Wenn keines da ist, der Staat, wie jetzt schon bei Bestattungen. Bei meinem Modell sind das im wesentlichen Notarsgebühren plus das Gift aus der Apotheke, da die Helfer nur ehrenamtlich tätig werden dürfen.
Euer Jürgen
Von Samsung-Tablet gesendet
-------- Ursprüngliche Nachricht --------
Von marcelstc AT aol.com
Datum: 07.12.2014 23:53 (GMT+01:00)
An ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
Betreff Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe
Ahoi,
ich habe mich damals extra wegen genau diesem Thema auf der Mailingliste angemeldet, wie ich damals auch geschrieben hatte, und möchte genau bei diesem Thema, wenn es denn geht, gerne Teil des Meinungsaustausches sein.
Insbesondere interessieren mich die sozialen und gesellschaftlichen Aspekte bei diesem Thema. badä und wolf haben diese bereits aufgegriffen. Mit folgenden Fragen muss sich daher dringendst beschäftigt werden, wenn man keinen unnötigen Schnellschuss bei der Positionierung der Partei (und sorry, den BEO-Entwurf würde ich als einen solchen bezeichnen) machen möchte:
-Wird eine Sterbehilfe unabhängig von Beweggründen (Schmerz, Leiden) gefordert? (Das wäre eine extrem radikale Forderung)
Falls nein:
-Wie prüft man die _tatsächlichen_ Beweggründe eines Menschen, der psychisch gesund ist und die Gesetzeslage kennt?
--Wie wird sozialer Druck, welcher auf einen psychisch (!) gesunden Mensch ausgeübt wird, als Beweggrund ausgeschlossen?
--Wie werden Ehrgefühl, Gewissen und "nicht mehr andere belasten wollen" als Beweggründe ausgeschlossen?
-Kann man in der langfristigen gesellschaftlichen Veränderung die Norm einer "Absolution" zuvor sozial schlecht Gestellter durch "freiwilliges Aussortieren" (ihres mutmaßlich nicht lohnenswertem Lebens) ausgeschlossen werden?
-Wird eine Sterbehilfe abhängig von Beweggründen, aber unabhängig von Krankheiten gefordert? (Das wäre auch noch eine relativ extreme Forderung)
Falls nein: (Hinweis: Ich bin kein Arzt^^)
-Müsste eine bestimmte zeitliche Nähe zum prognostizierten Todeszeitpunkt eingehalten werden?
-Wo genau werden die Grenzen zwischen schwer Kranken, Totkranken und Behinderten gezogen? (viele schwere Krankheiten bedingen Einschränkungen, viele schwere Behinderungen senken die Lebenserwartung massiv, nicht jede schwere Krankheit erläuft wie erwartet - es gibt immer nur Erwartungswerte, die als Grenzen herangezogen werden müssten)
-Ist hohes Alter mit den entsprechenden typischen, wohl tötlich verlaufenden Alterserscheinungen (Multimorbidität oder so üblich) eine tötliche Krankheit?
-Welche wirtschaftlichen Aspekte würden die Gesellschaft verändern?
-Falls die Sterbehilfe einen neuen Wirtschaftszweig auftut (siehe Nachbarländer...):
--Dürfen solche Unternehmen traditionelle Werbung machen?
--Welche ethischen Richtlinien würde man für diesen Wirtschaftszeig fordern?
--Wäre aktive Sterbehilfe als Kassenleistung zu erwarten, oder müssten überteuerte Dienstleistungsverträge ggf. unter Schmerzen abgeschlossen werden?
Wenn man die Fragen in Kombination liest, kann man vielleicht schon erahnen, welche Dystopie ich mich der Sterbehilfe-Debatte verbinde. Grade bei Fragen der gesellschaftlichen Veränderung darf man sich nicht unbedingt selbst als Maß aller Dinge nehmen. So leben wir nunmal z.B. in einer Gesellschaft, in der fragwürdige Thesen von AfD und CSU in einigen Städten mehrheitsfähig wären, während die Kernthemen der Piraten (z.B. Datenschutz) viele Büger überhaupt nicht interessieren.
Die letzte Frage aus dem Block der sozialen Fragestellungen mag auf den ersten Blick überzogen wirken, aber gesellschaftliche Veränderungen können bereits in einer Zeitspanne von 10 Jahren riesig sein. Darüber hinaus kennt man von Beerdigungen im persönlichen Umfeld selbst heute schon den klassischen Satz "war auch besser so". Meine Sorge: Heißt der in 5-10 Jahren vllt "war auch vernünftiger so"? Dann wäre man auch an der Stelle angekommen, an der man über jemanden, der leben und kämpfen möchte, als "unvernünftig" spricht.
Darüber hinaus muss glaubich gar nicht über die Situationen diskutiert werden, in denen sich ein Einzelner befinden mag. Ich bin mir sicher, man kann sich jederzeit einen fiktiven Kranken ausdenken, der sich auf keine denkbare Art umbringen könnte. Dann könnte die andere Seite aber wiederrum einen Selbstmord ausdenken, der noch möglich wäre. Mal ernsthaft: Sowas ist völlig an der Realität vorbei!
Ich glaube, man kann sich als Grundlage der Diskussionen durchaus darauf einigen, dass es Kranke geben mag, die sich eine solche Möglichkeit herbeisehnen und es Ärzte gibt, die dann unter der Hand gewissen Wünschen nachkommen oder auch nicht. Die Frage, die sich stellt ist daher eine rein ethische: Möchte man aufgrund diesen Umstandes eine juristische und eine (große) gesellschaftliche Veränderung hervorrufen oder nicht. Zu eben dieser Fragestellung würde ich mich über Beiträge zu meinen Fragen und Bedenken freuen.
Viele Grüße,
Marcel
-Wird eine Sterbehilfe abhängig von Beweggründen, aber unabhängig von Krankheiten gefordert? (Das wäre auch noch eine relativ extreme Forderung)
Falls nein: (Hinweis: Ich bin kein Arzt^^)
-Müsste eine bestimmte zeitliche Nähe zum prognostizierten Todeszeitpunkt eingehalten werden?
-Wo genau werden die Grenzen zwischen schwer Kranken, Totkranken und Behinderten gezogen? (viele schwere Krankheiten bedingen Einschränkungen, viele schwere Behinderungen senken die Lebenserwartung massiv, nicht jede schwere Krankheit erläuft wie erwartet - es gibt immer nur Erwartungswerte, die als Grenzen herangezogen werden müssten)
-Ist hohes Alter mit den entsprechenden typischen, wohl tötlich verlaufenden Alterserscheinungen (Multimorbidität oder so üblich) eine tötliche Krankheit?
-Welche wirtschaftlichen Aspekte würden die Gesellschaft verändern?
-Falls die Sterbehilfe einen neuen Wirtschaftszweig auftut (siehe Nachbarländer...):
--Dürfen solche Unternehmen traditionelle Werbung machen?
--Welche ethischen Richtlinien würde man für diesen Wirtschaftszeig fordern?
--Wäre aktive Sterbehilfe als Kassenleistung zu erwarten, oder müssten überteuerte Dienstleistungsverträge ggf. unter Schmerzen abgeschlossen werden?
Wenn man die Fragen in Kombination liest, kann man vielleicht schon erahnen, welche Dystopie ich mich der Sterbehilfe-Debatte verbinde. Grade bei Fragen der gesellschaftlichen Veränderung darf man sich nicht unbedingt selbst als Maß aller Dinge nehmen. So leben wir nunmal z.B. in einer Gesellschaft, in der fragwürdige Thesen von AfD und CSU in einigen Städten mehrheitsfähig wären, während die Kernthemen der Piraten (z.B. Datenschutz) viele Büger überhaupt nicht interessieren.
Die letzte Frage aus dem Block der sozialen Fragestellungen mag auf den ersten Blick überzogen wirken, aber gesellschaftliche Veränderungen können bereits in einer Zeitspanne von 10 Jahren riesig sein. Darüber hinaus kennt man von Beerdigungen im persönlichen Umfeld selbst heute schon den klassischen Satz "war auch besser so". Meine Sorge: Heißt der in 5-10 Jahren vllt "war auch vernünftiger so"? Dann wäre man auch an der Stelle angekommen, an der man über jemanden, der leben und kämpfen möchte, als "unvernünftig" spricht.
Darüber hinaus muss glaubich gar nicht über die Situationen diskutiert werden, in denen sich ein Einzelner befinden mag. Ich bin mir sicher, man kann sich jederzeit einen fiktiven Kranken ausdenken, der sich auf keine denkbare Art umbringen könnte. Dann könnte die andere Seite aber wiederrum einen Selbstmord ausdenken, der noch möglich wäre. Mal ernsthaft: Sowas ist völlig an der Realität vorbei!
Ich glaube, man kann sich als Grundlage der Diskussionen durchaus darauf einigen, dass es Kranke geben mag, die sich eine solche Möglichkeit herbeisehnen und es Ärzte gibt, die dann unter der Hand gewissen Wünschen nachkommen oder auch nicht. Die Frage, die sich stellt ist daher eine rein ethische: Möchte man aufgrund diesen Umstandes eine juristische und eine (große) gesellschaftliche Veränderung hervorrufen oder nicht. Zu eben dieser Fragestellung würde ich mich über Beiträge zu meinen Fragen und Bedenken freuen.
Viele Grüße,
Marcel
-----Original Message-----
From: wdt <wolf-dietrich AT trenner.de>
To: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
Sent: Tue, Dec 2, 2014 8:21 pm
Subject: Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe
From: wdt <wolf-dietrich AT trenner.de>
To: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
Sent: Tue, Dec 2, 2014 8:21 pm
Subject: Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe
Tach auch, interessanter Beitrag. wolf \gn8 Am 01. Dez. 2014 um 19:30 schrieb Reinhard Schaffert <reinhard.schaffert AT piratenpartei-hessen.de>: > > Signierter PGP Teil > Tag allerseits, > > Lesetipp: > http://www.zeit.de/community/2014-11/sterbebegleitung-tod-sterbehilfe-palliativmedizin > > Ich wünsche noch einen schönen Tag, > Reinhard > > > -- > AG-Gesundheitswesen mailing list > AG-Gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de > https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen
-- AG-Gesundheitswesen mailing list AG-Gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de https://service.piratenpartei.de/listinfo/ag-gesundheitswesen
- Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe, Reinhard Schaffert, 01.12.2014
- Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe, wdt, 02.12.2014
- Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe, marcelstc, 07.12.2014
- <Mögliche Wiederholung(en)>
- Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe, Jürgen Junghänel, 08.12.2014
- Re: [AG-Gesundheit] Sterbehilfe, wdt, 02.12.2014
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