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Re: [AG-Gesundheit] Fwd: [Piraten BW] Mögliche PM: Baden-Württembergs Justizminister fordert Gesetz zur Zwangsbehandlung psychisch Kranker
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- From: "Martin E. Waelsch" <dr.m.e.waelsch AT t-online.de>
- To: "'AG Gesundheit'" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
- Subject: Re: [AG-Gesundheit] Fwd: [Piraten BW] Mögliche PM: Baden-Württembergs Justizminister fordert Gesetz zur Zwangsbehandlung psychisch Kranker
- Date: Sun, 22 Jul 2012 23:11:30 +0200
- Importance: High
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- List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
Hallo,
das Interview von Prof. Falkei hätte ruhig etwas differenzierter ausfallen können. Die Gerichtsurteile gehen auf Klagen von Menschen zurück, die eine Zwangsbehandlung wohl so entwürdigend, belastend usw. erlebt haben und dazu auch noch in der Lage sind Klage zu führen. In alle erster Linie geht es um die Selbstbestimmung von Menschen, die ihre Situation, in dem Fall ihre rechte einschätzen können. Insofern ist es zu begrüßen, wenn sich die Gerichte der Sache von Zwangsbehandlungen annehmen. Auch in der modernen Psychiatrie müssen wir uns ständig kontrollieren, ob wir alle deeskalierenden Maßnahmen ausgeschöpft haben. Die vom Bundesverfassungsgericht, BGH geschaffene Transparenz finde ich im Grunde hilfreich. Vor allem deshalb, weil sie die Sicht auf Probleme der Behandlung von psychischen Ausnahmezuständen lenken, Ausnahmezustände eben nicht mehr alleine hinter den grauen Mauern der psychiatrischen Kliniken von den Mitarbeitern getragen werden müssen. Wir arbeiten heute in vielen Kliniken der Pflichtversorgung durchmischt und offen, schließen die Stationstüre nur, wenn es sich personell nicht anders bewältigen lässt. Etwa zu 70% der Jahreszeit gelingt es die Stationen offen zu halten, trotz der gegen ihren Willen untergebrachten Patienten (Psych-KG ca. 15%,UBG ca. 5%). Um diese Offenheit der Stationen aufrechterhalten zu können, müssen wir eine andere Kommunikation, deeskalierendes Verhalten und Umgang, verlässliche therapeutische Bündnisse eingehen. Das es anstrengend für die Mitarbeiter ist, wird man sich unschwer vorstellen. Vor allem gelingt es nicht immer, so ein Bündnis einzugehen, dass sich der Patient vor allem in akuten Psychosen, schweren Manien, Ausnahmezuständen bei schweren Persönlichkeitsstörungen oder langwierigen hirnorganischen Psychosyndromen sicher aufgehoben fühlt. Es ist der Erkrankung selbst geschuldet, dass sich der Patient existentiell bedroht fühlt. Er fühlt sich aber in seiner durch Krankheitserlebnisse erzeugte Angst auch von der Angst bedroht, die auf Jahrhunderte lang währende Vorurteile gegen psychisch kranke Menschen und gegen Psychiatrische Anstalten, auch heute aktuell zurückgeht. In diesem Kreis sind alle eingeschlossen: die Patienten, die Mitarbeiter in den Kliniken, die Richter, welche Unterbringungen aussprechen müssen, die Betreuer, die Angehörigen alle. Dabei kommt es sicher oft genug dazu, dass sich die Beteiligten hilflos fühlen und eine Zwangsmedikation als letzter Ausweg aus der Hilflosigkeit erscheint. Herr Prof. Falkei hat beschrieben, dass wir in den Kliniken in der Lage sind, die Situationen zu erkennen, medizinisch richtig und ethisch handeln können. Das ist richtig. Nur reicht es für die Fälle nicht, für die wir längere und intensivere Zeit für den Aufbau eines therapeutischen Bündnisses brauchen und länger den Patienten individuell intensiv (1:1) stützen müssen. Die Zwangsmedikation ist in den Fällen nötig, in denen die persönliche Qual des Patienten einem Notfall entspricht. Wenn wir es richtig erkennen, dann sind es die Patienten, die uns vor der Entlassung beim Abschlussgespräch mitteilen, dass ihnen die Sofortmaßnahme der Zwangsmedikation aus der Qual herausgeholfen hat. Die Patienten, bei denen wir zu schnell institutionell gedacht und gehandelt haben sind diejenigen, die sich über Zwangsbehandlung beschweren, (wenige eben auch den Klageweg gehen).
Ich denke, hier setzen auch die Absichten der Gerichte an: Situationen nicht entstehen zu lassen, in denen sich Menschen in Kliniken/Heimen (Hilfseinrichtungen) hilflos fühlen und aus Hilflosigkeit handeln müssen. Die Konsequenz der Gerichtsurteile ist nicht die, dass wir psychotische Patienten „alleine vor sich hin gut aufbewahrt in der eigenen Angst kochen lassen sollen/wollen“, sondern dass die personelle Ausstattung zahlen- und ausbildungsmäßig so erweitert wird, dass es zu Hilflosigkeiten aus Mangel gar nicht erst kommen muss.
Diese Urteile kommen gerade zu dem Zeitpunkt, als Analog den DGRs das Gesetz zu Entgelt-Psychiatrie den Bundestag und Bundesrat „erfolgreich“ passierte. Damit sind die gleichen Sparmaßnahmen und Reduzierungen von Ressourcen in der Psychiatrie vorprogrammiert, wie wir es seit Jahren in der somatischen Medizin mit den DRGs erleben. Etwa 3 Milliarden kosten die psychiatrischen Krankenhäuser im Jahr, das scheint einigen noch zu viel zu sein…
Es darf auch nicht sein, dass Psychopharmaka falsch eingeordnet werden. Ein differenzierter Umgang mit Psychopharmaka hat in der Psychiatrie für die Krankheitsbewältigung den Patienten eine echte Hilfe in die Hand gegeben. Von dem richtigen Medikament so viel wie nötig, und so wenig wie möglich. Ausbildung des Patienten im Umgang mit der Erkrankung und den Medikamenten (Psychoedukation), entsprechendes gilt für Angehörige und Betreuer. Was nicht sein kann, dass Psychopharmaka in Kliniken oder in Heimen als Ersatz für Personal angesehen und sogar verwandt werden. Das korrumpiert die segensreiche Hilfe der Psychopharmaka. In der Medikamentenforschung wird auf noch bessere Wirkungen und noch stärkere Minimierung von Nebenwirkungen zu achten sein.
Die Urteile müssen Konsequenzen mit sich bringen: -Rechtssicherheit für die Unversehrtheit und Selbstbestimmung der Patienten und der Mitarbeiter in den psychiatrischen Kliniken, -dabei juristisch-medizinische Transparenz, so dass schwerst psychisch kranke Menschen nicht den Vorurteilen der Gesellschaft ausgeliefert, hinter den Mauern der Kliniken ohne Behandlung aufbewahrt werden müssen (das hatten wir im 19. , Anfangs 20. Jahrhundert vor der Medikamenten-Ära) -das pauschalierende Entgelt-Psych wieder abschaffen, stattdessen die bestehende Psych-PV (Personalverordnung Psychiatrie) an moderne medizinische und eben grundrechtliche Anforderungen angepasst erhöhen -weiteren flächendeckenden Ausbau von wohnortnahen Psychiatrien (Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern) und damit koordiniert geplanten Abbau wohnortfernen Psychiatrie-Anstalten (Fachkrankenhäuser) mit deren Satteliten-Politik -weiterer Ausbau der kommunalen sozial-psychiatrischen Versorgung -
Dr. M. E. Waelsch
Von: ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de [mailto:ag-gesundheitswesen-bounces AT lists.piratenpartei.de] Im Auftrag von Nils Kohn
Moin,
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- Re: [AG-Gesundheit] Fwd: [Piraten BW] Mögliche PM: Baden-Württembergs Justizminister fordert Gesetz zur Zwangsbehandlung psychisch Kranker, Nils Kohn, 21.07.2012
- Re: [AG-Gesundheit] Fwd: [Piraten BW] Mögliche PM: Baden-Württembergs Justizminister fordert Gesetz zur Zwangsbehandlung psychisch Kranker, Martin E. Waelsch, 22.07.2012
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