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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative


Chronologisch Thread 
  • From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
  • To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative
  • Date: Tue, 29 Apr 2014 23:22:58 +0000
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Hi Matthias,

du schreibst:

Erklärungen und Narrative über die Finanzkrise seit 2007 gibt es viele. Doch Sie erklären das Geschehene wiedersprüchlich und aus unterschiedlichsten Perspektiven.
Das gilt ebenso für die Weltwirtschaftskrise und die Krise (Stagflation) in den 70.iger Jahren.

Warum ist das bedeutsam?

Es geht um die Deutungshoheit über das was geschehen ist. Den diese erlaubt es Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen abzuleiten die fast immer interessengeleitet waren und sind.

Ja. Dennoch lassen sich verschiedene Erklärungsansätze im Hinblick auf verschiedene Kriterien vergleichen.

Ein Kriterium für eine "gute" Theorie ist Schlüssigkeit und Effizienz in dem Sinn, daß aus einem Minimum an abstrakten Grundbegriffen und -Prinzipien über eine Reihe vermittelnder konkreterer Ebenen eine möglichst breite Vielfalt empirisch beobachtbarer Tatsachen in einen schlüssigen Zusammenhang bringen lassen.

Das ist ein bißchen wie bei Detektivarbeit. Jeder "Zeuge" erzählt seine eigene Geschichte aus seiner individuellen, von seinen individuellen Interessen geprägten Perspektive. Der "Detektiv" vergleicht diese Geschichten, sucht nach Widersprüchen, und versucht aus diesem Vergleich, sich an den "tatsächlichen Ablauf" anzunähern. Kriterium für seine Überzeugung ist dann die Schlüssigkeit seiner "Gesamtgeschichte", aus deren Perspektive dann auch Verzerrungen der von den Zeugen / Beteiligten erzählten "interessierten Teilperspektiven" verständlich werden. Im Verlauf der Vergleichsarbeit muß der Detektiv aber auch immer wieder eigene Vermutungen und Hypothesen aufstellen und diese (z.B. durch erneute Zeugenbefragungen, Befragung weiterer Beteiligter, Studium von Dokumenten, etc.) überprüfen, Widersprüchen nachgehen, etc. Es ist eine konstante Vergleichs- und Rekonstruktionsarbeit, die "Theoriearbeit" einschließt.

Insofern fand ich, daß Du den Begriff "Narrative" gut gewählt hast. Sozialwissenschaftliche Erkenntnis hat m.E. notwendigerweise diese "narrative" Form (und eine Kriminalgeschichte ist da ein guter Vergleich).

"Theorie" als System abstrakter Aussagen ist bei "politischer Ökonomie" deshalb essentiell, weil "Ökonomie" auf "Recht" beruht, dessen Grundidee wiederum die der "Gleichheit" ist. Zivilrecht behandelt alle Rechtspersonen als gleiche und daher abstrakte (denn von allen konkreten Unterschieden müssen die Gesetze folgerichtig ja absehen).

Diese rechtliche "Gleichheit" bildet auch die Grundlage für die abstrakte (alle Güter "gleich" behandelnde) Recheneinheit "Geld" (money of account).

Ok ... so weit erstmal zum Verhältnis von Geschichte und Theorie.

Die Deutungshoheit kann sich genau wie bei einem Paradigmenwechsel sogar im Lauf der Zeit pendelartig bewegen (Revisionismen) oder evolutorisch weiterentwickeln.

Wie man an der Theoriegeschichte der Ökonomie sieht:

- Politische Ökonomie entsteht in England als Reaktion auf die Entstehung des modernen Industriekapitalismus ("Bauernbefreiung", "soziale Frage", Entstehung der Lohnarbeiterklasse

- Marx'sche Theorie entsteht als Fusion der klassischen englischen polit. Ökonomie (Smith/Ricardo), des frz. Sozialismus und der Philosophie des deutschen Idealismus (Hegel) und als Ideologie der Arbeiterklasse (1. deutsche Arbeiterassoziation - Lassalle, später dann auch SPD etc.)

- Neoklassik entsteht als Reaktion auf die (1867 erschienene) Marx'sche Theorie am Ende des 19. Jahrhunderts

- die daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen führen in die Weltwirtschaftskrise

- das Lernen aus der Krise führt zum Keynesianismus

- die Übermacht der Gewerkschaften (Folge der aus der keynesianischen Theorie abgeleiteten wirtschaftspolitischen Strategie, Vollbeschäftigung anzustreben) führt in den 70ern zur neoklassischen Konterrevolution in Gestalt von Friedmans Monetarismus (basierend auf neoklassischen Grundannahmen incl. Quantitätstheorie) und zum Kampf gegen Keynsianismus, Staatsintervention und Gewerkschaften (Friedman: "natürliche Arbeitslosenrate", Thatcherismus http://de.wikipedia.org/wiki/Thatcherismus/Reagonomics; Thatcher nannte die Gewerkschaften "The Enemy within" und erklärte ihnen den Kampf - z.B. engl. Bergarbeiterstreik 1984/85 http://de.wikipedia.org/wiki/Britischer_Bergarbeiterstreik_1984/1985

- praktische Unwirksamkeit monetaristischer Geldpolitik (Geldmengenziele für Zentralbanken) führt zur Aufgabe des Geldmengenziels und zur Rückkehr zu einer an einem Inflationsziel orientierten ZB-Strategie

- wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen aus der Neoklassik-Renaissance führen in Weltwirtschaftskrise II (heute)

- Finanzkrise (als Auftaktphase von Weltwirtschaftskrise II) führt zunächst zu hektischer vulgärkeynesianischer Notstandspolitik (Bailouts, Staatsgarantien für Banken, Abwrackprämie etc.), danach zu "Business as Usual" im Sinne der gewohnten neoklassisch fundierten Wi-Politik; aber auch zu neuen theoretischen Suchprozessen (z.B. INET, etc.).

Schulmeister sortiert diese Theoriezyklen - ähnlich wie schon Marx - in die realhistorischen ökonomischen Konjunkturzyklen ein (er sieht die Theorieentwicklung als Reaktion auf die langen konjunkturellen Zyklen und als "Umsteuerungsinstrument" bzw. "Landkarte") - siehe als Skizze seinen Aufsatz "Realkapitalismus und Finanzkapitalismus http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at/fileadmin/homepage_schulmeister/files/Real-_Finanzkapitalismus_11_13.pdf"; (letzter Teil).

Daher ist es von großer Bedeutung zu welchen Erklärungen wir in der AG kommen. Ich kann bisher nicht feststellen das wir uns dieser Herausforderung gestellt haben.

Ja, ich auch nicht.

Es ist an der Zeit den Schritt von einer reinen Analyse des Geldsystems hinter uns zu lassen und einen größeren Rahmen zu untersuchen.

Sehe ich auch so.

Es geht um nicht geringeres als die Politische Ökonomie ins Zentrum zu rücken.

Ja - wobei "Politische Ökonomie" (eigentlich ein Begriff aus der Klassik) eben betont, daß es nicht nur um "Ökonomie" (Markt), sondern um die Interaktion von "Ökonomie" (Markt) und "Politik" (Staat) geht. Politik umfaßt weit mehr als Geldpolitik. Die "Spielanordnung" im Sinn von Schulmeister umfaßt auch ordnungspolitische Weichenstellungen/Gesetzgebungen (z.B. Finanzmarktregulierungen in Roosevelts New Deal - Glass Steagall Act, Steuer- und Sozialpolitik des New Deal, etc.).

"Ökonomie" (Markt) findet statt in der Sphäre des PRIVATRECHTS (Zivilrecht, in D: bürgerliches Recht), in der die Bürger als freie und gleiche, gleichberechtigte Rechtssubjekte behandelt werden.

"Politik" findet statt in der Sphäre des "öffentlichen Rechts", in der die Bürger als Untertanen des Staats behandelt werden (Herrschaftsrecht). Kann man so in jeder Einführung in die Rechtswissenschaft nachlesen, z.B. (sehr gut): Johann Braun: Einführung in die Rechtswissenschaft.

Die Grundidee des "Rechtsstaats" ist es nun, das Prinzip des Privatrechts, alle freien und gleichen Bürger gleichen Gesetzen zu unterwerfen, auch auf den Staat anzuwenden und die Handlungen der "Politik" (Herrschenden) an Gesetze zu binden, die von den freien und gleichen Bürgern selbst ausgehen ("Demokratie"). Das ist die "demokratische" Herrschaftsform, im Gegensatz zu einer "despotischen" oder "oligarchischen" etc.

Geldsystem, Geldpolitik, Wirtschaftspolitik, Institutionenökonomie, Verteilungsökomie etc. und neue Forschungsdiziplinen (Chaostheorie, Komplexitätstheorie und Verhaltensökonomie) müssen herangezogen und interdisziplinär untersucht werden um zu besseren Erklärungen zu gelangen.

Im Bereich der Boom and Bust Problematik haben wir diesen Ansatz schon erfolgreich angewendet. Die verschiedenen Theoriefamilien wurden von uns untersucht (ihre Erklärungsansätze scheinen sich eher zu ergänzen als gegeneinander auszuschließen)

Ergänzen ja, aber wichtig wäre, die verschiedenen Teil-Ansätze auf ein schlüssiges allgemeineres System von Grundbegriffen zu beziehen, in deren Rahmen ihr jeweiliger relativer Geltungsbereich bestimmt werden kann, und auch Verzerrungen erkennbar werden. Nur so können sie sinnvoll zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.

Fazit: Ein rein am Geldsystem orientierte Untersuchung ist nicht mehr weiter zu empfehlen. Wir haben dort großartiges geleistet und uns gemeinsam ein Know How erarbeitet. Wir spüren aber auch die Limitierungen. Wir sollten einen nächsten großen Schritt tun!

Sehe ich auch so. Es geht um die Analyse unserer "modernen Gesellschaft" (die es in zwei Varianten gab: "Kapitalismus" und "Realsozialismus") insgesamt, samt ihrer Geschichte (und antiken Vorgeschichte).

Und der Begriff des "Rechts" (eng verbunden mit der Idee der "Gleichheit", mit dem Zivilrecht und der Idee des "Rechtsstaats") als Basis des Grundbegriffs aller Ökonomie, dem Begriff der "Nominalforderung" (="Finanzvermögen"), scheint mir dabei der Schlüsselbegriff für die westlich-abendländische Geschichte zu sein. Das abstrakte "money of account" beruht auf dem abstrakten Begriff der "Gleichheit", dem Grundbegriff westlichen "Rechts" (-> Rechtsgeschichte, z.B. Uwe Wesel: Geschichte des Rechts).

Es ist v.a. diese rechtliche Seite, die Ökonomen bisher übersehen, die aber die Grundvoraussetzung für unser Kreditsystem ist, das wiederum die Grundlage für unsere Ökonomie bildet.

Und politisch gilt: es gibt das Steuerungsinstrument "Geld" bzw. "Kredit"; genereller und potenter ist das Steuerungsinstrument "Recht" (Gesetzgebung). Denn: "Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung" (G.F. Knapp) - sowohl des Privatrechts (Monetisierung von Forderungen Privater gegen Private durch die ZB) als auch des Staatsrechts (Monetisierung von Staatsschulden durchs Bankensystem).

Und so weiter.

Von da gelangen wir über den "Geld"-Begriff direkt zum Begriff des "Werts" und zur Werttheorie. Die muß neu fundiert werden - denn die existierenden Werttheorien (Arbeitswert- und Grenznutzenlehre) haben beide mit der realen Praxis nichts zu tun.

Es braucht also elementare gesellschaftstheoretische Grundlagenarbeit, die über "reine Ökonomie" (bzw. was Ökonomen darunter verstehen) in dem Sinne hinausgeht, daß man die "arbeitsteilige Isolierung" von Ökonomie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft über gemeinsame, integrierende Grundbegriffe überwindet.

Elementar dafür sind die (rechtlich definierten/geregelten und vom staatlichen Gewaltmonopol garantierten) Beziehungen "freier Bürger" untereinander ("bürgerliche Gesellschaft", "Sphäre des Zivilrechts/Privatrechts", "Markt") und zum Staat ("Sphäre des Staatsrechts" - Steuerrecht und damit Fiskalpolitik, aber auch Gesetzgebungsprozesse eingeschlossen).

Letztendlich geht es aber dabei immer ums Verstehen von Geschichte, um sie damit (im Rahmen des Möglichen) sinnvoll(er) gestalten zu können - daher ist das Ganze eingebettet in eine "Narrative" und selbst ein "narrativer Prozess", wie Du es genannt hast.

Soweit erstmal ein paar Ideen von meiner Seite.

Gruß + gute Nacht.




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