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Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik
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- Subject: Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative
- Date: Wed, 30 Apr 2014 09:19:59 +0200
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- List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>
Am 30.04.2014 01:22, schrieb moneymind:
Hi Matthias,
du schreibst:
Erklärungen und Narrative über die Finanzkrise seit 2007 gibt es
viele. Doch Sie erklären das Geschehene wiedersprüchlich und aus
unterschiedlichsten Perspektiven.
Das gilt ebenso für die Weltwirtschaftskrise und die Krise
(Stagflation) in den 70.iger Jahren.
Warum ist das bedeutsam?
Es geht um die Deutungshoheit über das was geschehen ist. Den diese
erlaubt es Schlussfolgerungen und Handlungsempfehlungen abzuleiten die
fast immer interessengeleitet waren und sind.
Ja. Dennoch lassen sich verschiedene Erklärungsansätze im Hinblick auf
verschiedene Kriterien vergleichen.
Ein Kriterium für eine "gute" Theorie ist Schlüssigkeit und Effizienz in
dem Sinn, daß aus einem Minimum an abstrakten Grundbegriffen und
-Prinzipien über eine Reihe vermittelnder konkreterer Ebenen eine
möglichst breite Vielfalt empirisch beobachtbarer Tatsachen in einen
schlüssigen Zusammenhang bringen lassen.
Und wie soll das nun aussehen? Wer bestimmt das Minimum abstrakter Grundbegriffe? Werden die gewählt oder befohelen? Wenn sie logisch ableitbar wären, gäbe es sie dann nicht doch schon lange?
Ich behaupte "Schlüssigkeit" und "Effizienz" sind gerade der Todesstoß für eine gute, noch dazu sozialwissenschaftliche, Theorie. Soziale Systeme sind keine trivialen Maschinen, die man von außen berechnen könnte. "Gute" (vielleicht im Sinne von robust) Theorien, sollten vielmehr mit Strukturbrüchen fertig werden können, was für mich grundsätzlich im Kontrast von Schlüssigkeit steht.
Es könnte sehr hilfreich sein, sich zu vergegenwärtigen, dass die meiste Information nicht dann entsteht, wenn alles "nach Plan läuft", sondern dann, wenn man erkennt, dass der Plan keine Entwicklungen determiniert sondern Abweichungen erkennbar macht.
Das ist ein bißchen wie bei Detektivarbeit. Jeder "Zeuge" erzählt seine
eigene Geschichte aus seiner individuellen, von seinen individuellen
Interessen geprägten Perspektive. Der "Detektiv" vergleicht diese
Geschichten, sucht nach Widersprüchen, und versucht aus diesem
Vergleich, sich an den "tatsächlichen Ablauf" anzunähern. Kriterium für
seine Überzeugung ist dann die Schlüssigkeit seiner "Gesamtgeschichte",
aus deren Perspektive dann auch Verzerrungen der von den Zeugen /
Beteiligten erzählten "interessierten Teilperspektiven" verständlich
werden. Im Verlauf der Vergleichsarbeit muß der Detektiv aber auch immer
wieder eigene Vermutungen und Hypothesen aufstellen und diese (z.B.
durch erneute Zeugenbefragungen, Befragung weiterer Beteiligter, Studium
von Dokumenten, etc.) überprüfen, Widersprüchen nachgehen, etc. Es ist
eine konstante Vergleichs- und Rekonstruktionsarbeit, die
"Theoriearbeit" einschließt.
Kurzum, die Theorie darf nicht nur mit einer einzigen objektiven Wahrheit umgehen können, sondern sie muss viele, von den jeweiligen Beobachtern abhängige Wahrheiten zulassen.
Insofern fand ich, daß Du den Begriff "Narrative" gut gewählt hast.
Sozialwissenschaftliche Erkenntnis hat m.E. notwendigerweise diese
"narrative" Form (und eine Kriminalgeschichte ist da ein guter Vergleich).
Das Problem des Sachverhalts, auf den sich der Begriff "Narrative" aus meiner Sicht beziehen könnte, ist die von mir schon oft angesprochenen Vermischung von Beschreibung, Erklärung und Bewertung.
Ich bin der Auffassung, man könnte sehr viel konstruktives Potenzial erschließen, wenn man sich bei jeder "Narrative" den Fokus auf auf diese 3 Punkte zu richten.
"Theorie" als System abstrakter Aussagen ist bei "politischer Ökonomie"
deshalb essentiell, weil "Ökonomie" auf "Recht" beruht, dessen Grundidee
Eine solche, hierarchische, Voraussetzung einer Diskussion als unhinterfragbare Grundposition unterzuschieben, scheint mir der das grundlegende Übel aller gegenwärtigen Diskussionen zu sein.
Der Komplexität der heutigen Gesellschaft angepasste Diskussionen müssten eher unter dem Aspekt der "Koexistenz" geführt werden. Nicht das eine beruht auf dem anderen, sondern beide entwickeln sich evolutionär in Koexistenz. Jede Seite ist gleichermaßen Voraussetzung für die andere.
Mit den Freiheitsgraden, die eine solche Perspektive eröffnet, muss man aber erst einmal, auch theoriegeleitet, umgehen können. Das scheint mir die eigentliche Herausforderung im Hinblick auf einen breit angelegte konstruktive Diskussion zu sein.
wiederum die der "Gleichheit" ist. Zivilrecht behandelt alle
Rechtspersonen als gleiche und daher abstrakte (denn von allen konkreten
Unterschieden müssen die Gesetze folgerichtig ja absehen).
Diese rechtliche "Gleichheit" bildet auch die Grundlage für die
abstrakte (alle Güter "gleich" behandelnde) Recheneinheit "Geld" (money
of account).
Ich möchte bezweifeln, dass die Gleichheit die Grundidee des Rechts ist. Vielleicht mag das, was jeder für sich hinter diesem Begriff zu entdecken meint, ein Wunschtraum eines speziellen Rechtssystems in einem bestimmten gesellschaftlichen Kontext sein. Ihn aber dem Rechtsbegriff als zeitloses Merkmal zuzuordnen halte ich zumindest für seeeeehhhhr erklärungsbedürftig.
Ok ... so weit erstmal zum Verhältnis von Geschichte und Theorie.
???????????
Die Deutungshoheit kann sich genau wie bei einem Paradigmenwechsel
sogar im Lauf der Zeit pendelartig bewegen (Revisionismen) oder
evolutorisch weiterentwickeln.
Dann sollte auch Evolution innerhalb der Theorie an prominenter Stelle erklär- und bewertbar sein, oder sehe ich das falsch?
Wie man an der Theoriegeschichte der Ökonomie sieht:
- Politische Ökonomie entsteht in England als Reaktion auf die
Entstehung des modernen Industriekapitalismus ("Bauernbefreiung",
"soziale Frage", Entstehung der Lohnarbeiterklasse
- Marx'sche Theorie entsteht als Fusion der klassischen englischen
polit. Ökonomie (Smith/Ricardo), des frz. Sozialismus und der
Philosophie des deutschen Idealismus (Hegel) und als Ideologie der
Arbeiterklasse (1. deutsche Arbeiterassoziation - Lassalle, später dann
auch SPD etc.)
- Neoklassik entsteht als Reaktion auf die (1867 erschienene) Marx'sche
Theorie am Ende des 19. Jahrhunderts
- die daraus abgeleiteten wirtschaftspolitischen Schlußfolgerungen
führen in die Weltwirtschaftskrise
- das Lernen aus der Krise führt zum Keynesianismus
- die Übermacht der Gewerkschaften (Folge der aus der keynesianischen
Theorie abgeleiteten wirtschaftspolitischen Strategie, Vollbeschäftigung
anzustreben) führt in den 70ern zur neoklassischen Konterrevolution in
Gestalt von Friedmans Monetarismus (basierend auf neoklassischen
Grundannahmen incl. Quantitätstheorie) und zum Kampf gegen
Keynsianismus, Staatsintervention und Gewerkschaften (Friedman:
"natürliche Arbeitslosenrate", Thatcherismus
http://de.wikipedia.org/wiki/Thatcherismus/Reagonomics; Thatcher nannte
die Gewerkschaften "The Enemy within" und erklärte ihnen den Kampf -
z.B. engl. Bergarbeiterstreik 1984/85
http://de.wikipedia.org/wiki/Britischer_Bergarbeiterstreik_1984/1985
- praktische Unwirksamkeit monetaristischer Geldpolitik (Geldmengenziele
für Zentralbanken) führt zur Aufgabe des Geldmengenziels und zur
Rückkehr zu einer an einem Inflationsziel orientierten ZB-Strategie
- wirtschaftspolitische Schlußfolgerungen aus der Neoklassik-Renaissance
führen in Weltwirtschaftskrise II (heute)
- Finanzkrise (als Auftaktphase von Weltwirtschaftskrise II) führt
zunächst zu hektischer vulgärkeynesianischer Notstandspolitik (Bailouts,
Staatsgarantien für Banken, Abwrackprämie etc.), danach zu "Business as
Usual" im Sinne der gewohnten neoklassisch fundierten Wi-Politik; aber
auch zu neuen theoretischen Suchprozessen (z.B. INET, etc.).
Schulmeister sortiert diese Theoriezyklen - ähnlich wie schon Marx - in
die realhistorischen ökonomischen Konjunkturzyklen ein (er sieht die
Theorieentwicklung als Reaktion auf die langen konjunkturellen Zyklen
und als "Umsteuerungsinstrument" bzw. "Landkarte") - siehe als Skizze
seinen Aufsatz "Realkapitalismus und Finanzkapitalismus
http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at/fileadmin/homepage_schulmeister/files/Real-_Finanzkapitalismus_11_13.pdf"
(letzter Teil).
Daher ist es von großer Bedeutung zu welchen Erklärungen wir in der AG
kommen. Ich kann bisher nicht feststellen das wir uns dieser
Herausforderung gestellt haben.
Ja, ich auch nicht.
Es ist an der Zeit den Schritt von einer reinen Analyse des
Geldsystems hinter uns zu lassen und einen größeren Rahmen zu
untersuchen.
Sehe ich auch so.
Es geht um nicht geringeres als die Politische Ökonomie ins Zentrum zu
rücken.
Ja - wobei "Politische Ökonomie" (eigentlich ein Begriff aus der
Klassik) eben betont, daß es nicht nur um "Ökonomie" (Markt), sondern um
die Interaktion von "Ökonomie" (Markt) und "Politik" (Staat) geht.
Politik umfaßt weit mehr als Geldpolitik. Die "Spielanordnung" im Sinn
von Schulmeister umfaßt auch ordnungspolitische
Weichenstellungen/Gesetzgebungen (z.B. Finanzmarktregulierungen in
Roosevelts New Deal - Glass Steagall Act, Steuer- und Sozialpolitik des
New Deal, etc.).
"Ökonomie" (Markt) findet statt in der Sphäre des PRIVATRECHTS
(Zivilrecht, in D: bürgerliches Recht), in der die Bürger als freie und
gleiche, gleichberechtigte Rechtssubjekte behandelt werden.
"Politik" findet statt in der Sphäre des "öffentlichen Rechts", in der
die Bürger als Untertanen des Staats behandelt werden
(Herrschaftsrecht). Kann man so in jeder Einführung in die
Rechtswissenschaft nachlesen, z.B. (sehr gut): Johann Braun: Einführung
in die Rechtswissenschaft.
Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass Politik "Recht setzt". Wenn etwas in einer Einführung steht, bin ich schon grundsätzlich skeptisch, besonders wenn man einen großen Wurf machen will.
Mich wundert es schon sehr, warum, wenn hier schon von Recht gesprochen wird, nicht die Unterscheidung von Rechtsetzung und Rechtsprechung stärker thematisiert wird.
Die Grundidee des "Rechtsstaats" ist es nun, das Prinzip des
Privatrechts, alle freien und gleichen Bürger gleichen Gesetzen zu
unterwerfen, auch auf den Staat anzuwenden und die Handlungen der
"Politik" (Herrschenden) an Gesetze zu binden, die von den freien und
gleichen Bürgern selbst ausgehen ("Demokratie"). Das ist die
"demokratische" Herrschaftsform, im Gegensatz zu einer "despotischen"
oder "oligarchischen" etc.
Ich finde es nicht sehr kreativ, die Dominanz der Wirtschaft mit einer Dominanz des Rechts bekämpfen zu wollen.
Hierarchische Modelle können nicht gut mit Komplexität umgehen, weil sie sie schon per Definition einschränken.
Geldsystem, Geldpolitik, Wirtschaftspolitik, Institutionenökonomie,
Verteilungsökomie etc. und neue Forschungsdiziplinen (Chaostheorie,
Komplexitätstheorie und Verhaltensökonomie) müssen herangezogen und
interdisziplinär untersucht werden um zu besseren Erklärungen zu
gelangen.
Im Bereich der Boom and Bust Problematik haben wir diesen Ansatz schon
erfolgreich angewendet. Die verschiedenen Theoriefamilien wurden von
uns untersucht (ihre Erklärungsansätze scheinen sich eher zu ergänzen
als gegeneinander auszuschließen)
Ergänzen ja, aber wichtig wäre, die verschiedenen Teil-Ansätze auf ein
schlüssiges allgemeineres System von Grundbegriffen zu beziehen, in
deren Rahmen ihr jeweiliger relativer Geltungsbereich bestimmt werden
kann, und auch Verzerrungen erkennbar werden. Nur so können sie sinnvoll
zueinander ins Verhältnis gesetzt werden.
Fazit: Ein rein am Geldsystem orientierte Untersuchung ist nicht mehr
weiter zu empfehlen. Wir haben dort großartiges geleistet und uns
gemeinsam ein Know How erarbeitet. Wir spüren aber auch die
Limitierungen. Wir sollten einen nächsten großen Schritt tun!
Sehe ich auch so. Es geht um die Analyse unserer "modernen Gesellschaft"
(die es in zwei Varianten gab: "Kapitalismus" und "Realsozialismus")
insgesamt, samt ihrer Geschichte (und antiken Vorgeschichte).
Und der Begriff des "Rechts" (eng verbunden mit der Idee der
"Gleichheit", mit dem Zivilrecht und der Idee des "Rechtsstaats") als
Basis des Grundbegriffs aller Ökonomie, dem Begriff der
"Nominalforderung" (="Finanzvermögen"), scheint mir dabei der
Schlüsselbegriff für die westlich-abendländische Geschichte zu sein. Das
abstrakte "money of account" beruht auf dem abstrakten Begriff der
"Gleichheit", dem Grundbegriff westlichen "Rechts" (-> Rechtsgeschichte,
z.B. Uwe Wesel: Geschichte des Rechts).
Es ist v.a. diese rechtliche Seite, die Ökonomen bisher übersehen, die
aber die Grundvoraussetzung für unser Kreditsystem ist, das wiederum die
Grundlage für unsere Ökonomie bildet.
Und politisch gilt: es gibt das Steuerungsinstrument "Geld" bzw.
"Kredit"; genereller und potenter ist das Steuerungsinstrument "Recht"
(Gesetzgebung). Denn: "Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung" (G.F.
Knapp) - sowohl des Privatrechts (Monetisierung von Forderungen Privater
gegen Private durch die ZB) als auch des Staatsrechts (Monetisierung von
Staatsschulden durchs Bankensystem).
Und so weiter.
Von da gelangen wir über den "Geld"-Begriff direkt zum Begriff des
"Werts" und zur Werttheorie. Die muß neu fundiert werden - denn die
existierenden Werttheorien (Arbeitswert- und Grenznutzenlehre) haben
beide mit der realen Praxis nichts zu tun.
Es braucht also elementare gesellschaftstheoretische Grundlagenarbeit,
die über "reine Ökonomie" (bzw. was Ökonomen darunter verstehen) in dem
Sinne hinausgeht, daß man die "arbeitsteilige Isolierung" von Ökonomie,
Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft über gemeinsame,
integrierende Grundbegriffe überwindet.
Elementar dafür sind die (rechtlich definierten/geregelten und vom
staatlichen Gewaltmonopol garantierten) Beziehungen "freier Bürger"
untereinander ("bürgerliche Gesellschaft", "Sphäre des
Zivilrechts/Privatrechts", "Markt") und zum Staat ("Sphäre des
Staatsrechts" - Steuerrecht und damit Fiskalpolitik, aber auch
Gesetzgebungsprozesse eingeschlossen).
Letztendlich geht es aber dabei immer ums Verstehen von Geschichte, um
sie damit (im Rahmen des Möglichen) sinnvoll(er) gestalten zu können -
daher ist das Ganze eingebettet in eine "Narrative" und selbst ein
"narrativer Prozess", wie Du es genannt hast.
Soweit erstmal ein paar Ideen von meiner Seite.
Im großen und ganzen scheint mir das zu sehr "Narrative" zu sein, als dass man auf solchen Ausführungen irgendwie theoretisch aufbauen könnte.
Gruß + gute Nacht.
- [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative, matthias garscha, 29.04.2014
- Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative, Piratos, 29.04.2014
- Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative, Rudi, 29.04.2014
- Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative, moneymind, 30.04.2014
- Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative, Ex-SystemPirat, 30.04.2014
- Re: [AG-GOuFP] Finanzmarktkrise und Narrative, Piratos, 29.04.2014
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