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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - [AG-GOuFP] Die Legitimation der Marktwirtschaft

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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[AG-GOuFP] Die Legitimation der Marktwirtschaft


Chronologisch Thread 
  • From: Stephan Schwarz <me AT schwarzpress.de>
  • To: AG-Geldordnung-und-Finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de, ag-wirtschaft AT lists.piratenpartei.de, Europa Diskussion <ag-europa-diskussion AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: [AG-GOuFP] Die Legitimation der Marktwirtschaft
  • Date: Sun, 24 Nov 2013 17:16:11 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

..lege ich jedem ans Herz, mal in Ruhe zu lesen :-)
http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/


Die Legitimation der Marktwirtschaft

Frank Nullmeier <http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/autor/768/>

*Prof. Dr. Frank Nullmeier* lehrt Politikwissenschaft an der Universität
Bremen und ist dort Leiter der Abteilung "Theorie und Verfassung des
Wohlfahrtsstaates" des Zentrums für Sozialpolitik.

Von Legitimität und Legitimation wurde traditionell nur mit Bezug auf
politische Herrschaftsordnungen, insbesondere staatliche politische
Systeme gesprochen. Soziologische Untersuchungen zur Marktwirtschaft
haben die Rechtfertigungen und Kritiken, welche die entstehende
Wettbewerbsökonomie antrieben oder begleiteten, seit Max Webers
Protestantismusthese immer wieder aufgegriffen, aber nicht mit dem
Begriff Legitimität belegt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich das
geändert. Nunmehr wird von der Legitimität oder Illegitimität der
marktwirtschaftlichen Ordnung oder des Kapitalismus gesprochen.1
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-1>
Die Renaissance der Wirtschaftssoziologie und der Aufstieg der
Internationalen Politischen Ökonomie haben dazu beigetragen, dass heute
theoretische Konzepte aus allen Bereichen der Sozialwissenschaften
verwendet werden, um Entwicklungen im Feld der Ökonomie zu analysieren.2
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-2>
Die Marktwirtschaft oder der Kapitalismus werden als Ordnung verstanden,
die auf die Sicherung ihrer Legitimität, d.h. ihrer
Anerkennungswürdigkeit, angewiesen sind. Um diese zu gewährleisten,
bedarf es der aktiven Rechtfertigung und positiven Bewertung dieser
ökonomischen Ordnung, also Prozessen der Legitimation.

Kritik und Verteidigung der Marktwirtschaft, des Kapitalismus, des
Marktes, des freien Wettbewerbs oder des Privateigentums sind kein neues
Phänomen. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist nicht ohne die
radikalen Angriffe und die hartnäckige Verteidigung der Marktökonomie zu
denken. Die Kapitalismuskritik war jedoch sehr lange mit den Begriffen
Sozialismus, Kommunismus, auch Anarchismus als positiven Gegenkonzepten
oder auch nur -begriffen verbunden. Diese von der Arbeiterbewegung
getragene Kritik an der Marktwirtschaft war geschichtlich
außerordentlich wirkmächtig, das Entstehen der Systemkonkurrenz zwischen
kommunistischen Ländern und Marktwirtschaften ist ohne die Marktkritik
nicht zu denken. Spätestens mit den osteuropäischen Revolutionen der
Jahre 1989/1990 ist aber die Inanspruchnahme des Sozialismus als
ordnungspolitische Gegenvision zur Marktwirtschaft hinfällig geworden.
Die Marktwirtschaft hat keinen Konkurrenten mehr. Marktkritik kann weder
auf eine realisierte Alternativordnung zurückgreifen noch auf eine
Vision einer anderen Ökonomie. Die ideologische Alternativlosigkeit der
Marktwirtschaft hat ein Pendant auf dem Felde des Politischen: Auch dort
gibt es nur eine legitime Grundordnung: die Demokratie. Die Konkurrenten
sind hier weit früher aus dem Felde geschlagen worden: Monarchie,
Kaiserreich, Militärdiktatur, Religionsherrschaften und andere
Autokratien aller Art sind in einem Zeitalter der Menschenrechte nicht
mehr vertretbar, schon die sozialistischen Systeme mussten den Begriff
Demokratie borgen, um ihr politisches System - als Volksdemokratie - zu
legitimieren.3
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-3>

Das weitgehende Fehlen von Konkurrenzvorstellungen politischer und
ökonomischer Ordnungen hat zwei Folgen: Zum einen entfaltet sich der
Streit nun um die Frage, welche Variante von Marktwirtschaft bzw.
Demokratie als angemessen gelten kann. Man kann für eine
Repräsentativdemokratie oder eine Direktdemokratie eintreten, für eine
deliberative Demokratie oder für eine regulierte Markt­ökonomie, einen
liberalen Kapitalismus oder eine soziale Marktwirtschaft. Die
Auseinandersetzung scheint aber bei diesem Kampf um die richtige
Variante der politischen oder ökonomischen Ordnung deutlich gemäßigter
auszufallen. Zum zweiten wird aber virulenter, wie sich politisches und
ökonomisches Legitimitätsmodell zueinander verhalten. Gibt es eine
Legitimitätshierarchie zwischen der Demokratie und der Marktwirtschaft
oder sind dies Prinzipien für zwei völlig verschiedene Sphären? Wenn die
Expansion des Marktwirtschaftlichen aber die Spielräume der Politik
einengt, untergräbt dies nicht die Demokratie mit der Folge, dass
nunmehr die Gesamtordnung aus Demokratie und Ökonomie illegitim wird?

Bisher galt für die westlichen Gesellschaften ein klares Trennmodell:
Politik (Demokratie) und Ökonomie (Marktwirtschaft) folgen jeweils
eigenen Legitimitäts­konzeptionen: demokratische Gleichheit als Leitwert
des politischen Funktionssystems, Allokationseffizienz als Leitwert des
ökonomischen Systems. Politik hat zudem die Aufgabe, Defizite des
Marktsystems auszugleichen und in diesem Rahmen für soziale
Gerechtigkeit zu sorgen: die Aufgabe des Sozial- und
Interventionsstaates. Diese expansive Tendenz der Politik darf aber nie
soweit gehen, dass Legitimitätsstandards von einem auf das andere Feld
übertragen werden. Jeder Versuch, den Markt selbst sozial und
demokratisch zu gestalten, aber auch jeder Versuch, die Politik wie
einen Markt zu veranstalten, gelten im Trennmodell als unangemessen und
potentiell destruktiv.4
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-4>
Diese These wird heute von Seiten der Systemtheorie verteidigt: Aus der
Eigenlogik und operativen Autonomie der gesellschaft­lichen
Funktions­systeme mit jeweils eigenen Reflexionstheorien könne auf die
funktionale Notwendigkeit systemspezifischer Legitimitätskonzepte
geschlossen werden.5
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-5>
Doch das Trennmodell scheint merkwürdig veraltet: Wie könnte verhindert
werden, dass Bürgerinnen und Bürger, Unternehmen und "Märkte" vom
politischen System verlangen, effektiv, effizient und konkurrenzfähig zu
sein? Und wie sollte verhindert werden können, dass Menschen vom
ökonomischen System einfordern, soziale Gerechtigkeit und Partizipation
nicht zu ignorieren?


Demokratisierung der Ökonomie?

Mit dem politischen Aufstieg wirtschaftsliberaler Reformkonzepte wurde
dieses Trennmodell bereits seitens der Ökonomie entschieden
durchbrochen. Die Politik sollte selbst möglichst weitgehend nach
Prinzipien ökonomischer Effizienz umgestaltet oder durch
Wettbewerbs­prozesse und private Unternehmen ersetzt werden. Dieses
Ausgreifen des ökonomischen Legitimitätsmodells auf die Politik erwies
sich als sehr wirksam. Die Reformpolitik der späten 1980er, der 1990er
und frühen 2000er Jahre folgte weithin diesem Denkmodell - wenn auch mit
unterschiedlichem Erfolg. Als Antwort auf die Expansion des
Effizienzmodells könnte man sich einen demokratischen Gegenentwurf
vorstellen, der analog die Prinzipien der Politik auf die Ökonomie
überträgt. Statt eines solchen reinen Gegenmodells ist eher eine
Denkweise erkennbar, die man als Doppelanforderungsmodell bezeichnen
könnte. Dieses Modell nimmt an, dass die Leitkriterien von einem Feld
auf das andere in beiden Richtungen übertragbar sind - also auch
ökonomische Kriterien auf die Politik. Effizienz ist ein wichtiger
Maßstab politischen Entscheidens. Wie immer man die Bilanz der
wirtschaftsliberalen Reformen einschätzt, an der grundsätzlichen
Legitimität, die politischen Strukturen auf ihre Effizienz zu befragen,
lässt sich danach nicht zweifeln. Umgekehrt ist es diesem Modell zufolge
ebenso zu verlangen, dass sich die Marktökonomie den Maßstäben der
Gerechtigkeit und der Demokratie aussetzt. Es soll mithin eine doppelte
Übertragung von Legitimitätsstandards stattfinden: Die Ökonomie muss nun
zusätzlich auch noch demokratisch, gerecht und partizipativ sein, um als
legitim gelten zu können, die politischen Institutionen auch noch
innovativ und effizient.

Aber - noch vor jeder Überlegung zu den Realisierungschancen - ist
dieses Modell überhaupt gedanklich durchzuhalten? Ist eine Marktökonomie
überhaupt demokratisierbar? Wir können uns Demokratie und
Demokratisierung meist nur vorstellen für eine organisierte Einheit
einer Vielzahl von Personen: einen Verein, eine Partei, einen Verband,
eine Schule, einen Staat, eine internationale Institution. In einem
weiten Sinne lässt sich Demokratie auch noch vorstellen für eine Gruppe
von Menschen, eine Freundesgruppe, eine spontane Versammlung oder auch
eine Familie. Immer muss es sich um einen Personenzusammenhang oder eine
Organisation handeln, damit überhaupt die Möglichkeit der Implementation
demokratischer Verfahren wie Beteiligung aller Mitglieder bei Wahlen,
Einrichtung von Ämtern, Gremien, Repräsentanten und eine kollektive
Entscheidungsfindung mittels (qualifiziertem) Mehrheits-,
Einstimmigkeits- oder Konsensprinzip gegeben ist.

Die Marktökonomie als Ganze stellt keine Organisation dar.6
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-6>
Sicherlich spielen Organisationen, insbesondere Unternehmen, in der
Marktwirtschaft eine tragende Rolle. Aber die Ökonomie mit all ihren
Milliarden Zahlungsvorgängen ist insgesamt weder eine Organisation noch
eine Versammlung von Menschen. Märkte zeichnen sich dadurch aus, dass
sich zwischen Unternehmen und Kunden freiwillige Transaktionen mit einer
Vielzahl von untereinander in der Regel nicht bekannten Teilnehmern
vollziehen. Märkte sind zwar in öffentliche Institutionen eingebettet,
sie selbst sind aber nur ein Netzwerk aus Transaktionen. Kennzeichnend
für Märkte ist die Möglichkeit, bestimmte Interaktionsformen (Kaufakte)
in beinahe unendlicher Weise miteinander zu verkoppeln: Der Austausch
von Gütern und Dienstleistungen aller Art über freie vertragliche
Vereinbarungen zwischen den Interessenten ist das interaktive Element,
das Märkte und die Marktwirtschaft erst ausmacht.

Es ist vorstellbar, dass Unternehmen demokratisiert werden, es ist auch
vorstellbar, wie Märkte einer demokratischen (Plan-)Wirtschaft weichen
oder wie Transaktionen durch staatliche Rechtssysteme extern reguliert
werden. Hingegen ist es theoretisch nicht vorstellbar, wie Käufe und
Zahlungen als Interaktionsformen demokratisiert werden sollten.
Demokratische Legitimität kann ein Wirtschaftssystem erlangen, wo
Unternehmen selbst verwaltet werden und zudem Transaktionen wie Betriebe
einer demokratischen Außen- und Gesamtsteuerung unterliegen. Wer
demokratische Legitimität in die ökonomische Sphäre übertragen will,
wird sich aber mit Märkten als Vielheit von Kaufakten kaum arrangieren
können. Markt-Transaktionen lassen sich dagegen an Kriterien von
Gleichheit und Gerechtigkeit messen.

Was Gerechtigkeit hier heißen kann, ist zwar stark umstritten. Der
libertäre Zweig der Gerechtigkeitstheorie in der Tradition von Locke bis
Nozick gründet die Gerechtigkeit des Marktes auf der Freiwilligkeit und
Gewaltfreiheit von Tausch und Vertrag (als Austauschgerechtigkeit oder
Äquivalenzbeziehung) und folgert, dass aufgrund der basalen Legitimität
des Tausches alle daraus hervorgegangenen Transaktionsergebnisse
ebenfalls als gerecht anzusehen sind, solange nur die Freiwilligkeit des
Tausches eingehalten worden ist. Demgegenüber betonen egalitaristische
Gerechtigkeitstheorien, dass auch die Ergebnisse der Marktallokation der
Begrenzung der Ungleichheit dienen müssen (so das Rawls'sche
Differenzprinzip), damit eine Gesellschaftsordnung als legitim gelten
kann. Marktinteraktionen lassen sich gerechter gestalten, aber nicht
demokratischer. Es gibt mithin Grenzen der Demokratisierbarkeit der
Marktökonomie: Dort, wo es um Organisationen geht, lassen sich
demokratische Verfahren implementieren, und auch dort, wo Tauschakte
reguliert werden, lassen sich Regulierungsagenturen demokratischen
Zuschnitts denken. Das Projekt einer wirtschaftlichen Demokratisierung
lässt sich also durchaus eine weite Strecke lang verfolgen. Allein in
den basalen Interaktionsformen wie Zahlung und Tausch und den durch sie
gebildeten "Spontanbereichen"7
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-7>:
den Märkten sind Grenzen für die Anwendbarkeit demokratischer Verfahren
und damit Grenzen der Expansion demokratischer Legitimität gesetzt. Die
Marktwirtschaft kann in all ihren Grundelementen nicht zu einer
demokratischen Ordnung werden. Eine nicht hintergehbare Differenz
zwischen Ökonomie und Politik verbleibt mithin und begrenzt auch die
Möglichkeiten des Modells der doppelten Legitimationsanforderungen.


Verantwortlichkeit der Eliten als neuer Weg

Angesichts dieser immanenten Grenzen der Demokratisierungsstrategie, vor
allem aber wegen der ungelösten Frage, wie demokratische Verfahren auf
internationaler Ebene etabliert werden können, hat eine andere
Denkbewegung erhebliche Bedeutung erlangt. Danach folgen Politik und
Ökonomie in Zukunft einem gänzlich veränderten Set an
Legitimitätskriterien. Weder reine Allokationseffizienz noch
demokratische Gleichheit können danach als grundlegende
Legitimitätsmaßstäbe gelten. Verantwortbarkeit von Entscheidungen, deren
Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Bestreitbarkeit bilden den Kern
eines neuen Legitimitätskonzepts, des Eliten-Verantwortungsmodells. Die
gedeihliche Entwicklung der Gesellschaften wird nicht mehr dem offenen
demokratischen Prozess oder dem freien Markt unvermittelt anvertraut.

Vielmehr sind es Eliten, die in Politik und Ökonomie Entscheidungen
treffen: in großen Unternehmen, Banken, Regulierungsbehörden,
Regierungen und internationalen Organisationen. Sie müssen diese
Entscheidungen relativ ungebunden treffen können, sie müssen sie aber
auch verantwortlich treffen, müssen diese gegenüber Arbeitnehmern,
Kunden, Bürgern und Interessenten verantworten und sind ihnen
rechenschaftspflichtig. Die Entscheidungen müssen auf der Basis des
verfügbaren Wissens unter Nutzung umfassender Expertise getroffen,
Argumente müssen in freiem Austausch sachlich erörtert und
Entscheidungen nachvollziehbar in transparenter Weise durchgeführt
werden. Entscheidungen sind aber zu komplex, um sie dem Selbstlauf von
Demokratie und Markt zu überlassen. Es sind die Eliten, die allein in
der Lage sind, die komplizierten Marktvorgänge und
Politik-Wirtschaftsverflechtungen steuernd zu bewältigen. Die Eliten aus
Politik und Ökonomie werden ihrer Verantwortung für das Wohl aller
dadurch gerecht, dass ihre weithin von anderen Einflüssen enthobenen
Entscheidungen in Formen und Verfahren erfolgen, die von Maßstäben wie
Verantwortlichkeit und sozialer Verantwortung, Transparenz,
Argumentativität und Deliberation getragen sind und auf der Basis der
Einhaltung liberaler Menschenrechte erfolgen. Das sind die Konturen
eines Legitimitätsmodells, das jenseits von Allokationseffizienz und
demokratischer Gleichheit agiert.8
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-8>
Welche Chancen besitzt diese vom alten Trennmodell weit entfernte
Legitimitätskonstruktion? Dazu muss man aber die aktuelle Situation der
europäischen Schuldenkrise heranziehen, denn die Zukunft der
Legitimation von Marktwirtschaft und Demokratie könnte sich an Europa
entscheiden.


Europäische Politik und Marktlegitimation

Die europäische Politik galt lange als Sphäre der reinen Elitenpolitik.
In Kooperation zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten mit der
Brüsseler Administration wurden ohne große öffentliche Aufmerksamkeit
die europäischen Entscheidungen getroffen. In dieser Zeit einer
Europapolitik der Exekutiven kam es auch nur selten zu einer
öffentlichen Infragestellung der Legitimitätsgrundlagen der
Vorläuferorganisationsformen der heutigen EU. Die langsame Entwicklung
einer europäischen Legitimitätspolitik folgte den Bahnen demokratischer
Legitimität.9
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-9>
Doch gerade die Einführung der Europawahlen machte das Demokratiedefizit
Europas nur sichtbarer, sind es doch Wahlen zu einem Parlament, dem
nicht einmal ein legislatives Initiativrecht zukommt. Mochten diese
Schwächen demokratischer Legitimation anfangs noch verwindbar sein, so
wurden sie schmerzlich, als mit dem Maastrichter Vertrag, der Einführung
des Euro und den Erweiterungsrunden zu einer EU-27 das Dasein im
Schatten der Öffentlichkeit vorbei war. Zu der erhöhten Sichtbarkeit
trat mit der Europäischen Verfassungsdebatte seit 2001 und vor allem den
negativen Voten bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden 2005
eine explizite Politisierung der EU hinzu: Eine allgemeine öffentliche
und vor allem kontroverse Debatte über die weitere Zukunft der Union
fand statt und hält bis heute an.10
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-10>
Es ist zudem eine Auseinandersetzung über die Grundlagen der EU, nicht
über einzelne Richtlinien oder Politikfelder.

Die Politisierung der EU wird in der Politikwissenschaft unterschiedlich
bewertet. Von einer Richtung wird sie als öffentliche Umstrittenheit
verstanden, die notwendige Voraussetzung jeder demokratischen
Regierungsform ist. Politisierung wirkt damit mittelfristig in Richtung
einer Demokratisierung der EU.11
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-11>
Dieser positiven Deutung steht eine pessimistische gegenüber, die in der
Politisierung nur das Auftreten antieuropäischer oder euroskeptischer
Strömungen erkennen kann. Statt demokratisierend zu wirken, arbeite die
öffentliche Umstrittenheit nur dem Populismus zu, als Auftreten einer
Identitätspolitik, die letztlich eher zu einer Renationalisierung
führe.12
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-12>
Unabhängig von diesen Wertungsdifferenzen, die öffentliche
Aufmerksamkeit für die EU in den nationalen Öffentlichkeiten hat seit
2010 ein ganz neues Ausmaß gewonnen: die EU-Schulden- oder Eurokrise hat
die Berichterstattung über die EU, ihre Gremien und Konferenzen, aber
auch über die einzelnen Mitgliedstaaten, die besonders von der Krise
betroffen waren, aber auch jener Mitgliedsländer, die in der Politik der
Krisenbewältigung den Ton angaben, einen sehr breiten Umfang angenommen.

Wie hat sich die gesteigerte Politisierung und Aufmerksamkeit für die EU
aber auf die Legitimation des Marktes ausgewirkt? Schließlich ist die
Neubewertung der Schuldensituation europäischer Länder durch die Märkte
im Gefolge der weltweiten Finanzkrise 2008 und 2009 Anlass der Euro- und
EU-Krise. Es sind Marktvorgänge, die die Krise der Staatsfinanzen
einiger Länder hervorgerufen haben, zu nationalen und europäischen
Rettungsaktionen zwangen und diese Länder auch weiterhin bedrohen.13
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-13>
Und es sind Marktvorgänge, die die Immobilienkrise der USA in eine
weltweite Finanz- und Bankenkrise, in eine wirtschaftliche Rezession und
schließlich ein Misstrauen gegenüber der Schuldenfinanzierung
insbesondere von südeuropäischen Staaten geführt haben. Politische
Versuche, sich die Finanz- und Bankenkrise nicht weiter entfalten zu
lassen, haben eine Erhöhung der Staatsschulden bewirkt, die nun mit
enormen Zinsaufschlägen versehen sind. Die Politisierung der EU, so
ließe sich argumentieren, geht auf Funktionsschwächen der weltweiten
Kapitalmärkte zurück. Die Schwierigkeiten der Politik können mithin auf
die Markt­ökonomie zurückverfolgt werden. Und dies könnte Folgen für die
Legitimation der Marktwirtschaft haben. Zum einen könnte es zu einer Art
Ansteckung kommen: Die Politisierung der EU führt zu einer erhöhten
öffentlichen Umstrittenheit, vermehrter Auseinandersetzung über die
Grundlagen der Marktökonomie (Politisierungsthese). Eine zweite
Erwartung könnte lauten: Die Politisierung der EU führt zur Zunahme der
Kritik an der Marktwirtschaft als wirtschaftlichem Ordnungsprinzip. Es
kommt zu einer Infragestellung des Kapitalismus oder einzelner seiner
tragenden Prinzipien (Delegitimationsthese). Die Eurokrise und die
Politisierung der EU können auch als Verstärker einer seit 2008 bereits
angelegten Tendenz in Richtung Politisierung und Delegitimation des
Marktes verstanden werden. Sie sind nur die zweite Phase der weltweiten
Krise eines vom Finanzsystem gesteuerten Kapitalismus, so dass sich die
Effekte der ersten Krisenphase 2008 und 2009 mit den europäischen
Entwicklungen nach 2010 überlagern und verstärken müssten.


Die Marktwirtschaft in der politischen Öffentlichkeit

Die empirische Forschung hatte sich bisher nur der Legitimation von
nationalen politischen Regimen, europäischen und internationalen
politischen Institutionen gewidmet. Sie bediente sich dabei entweder der
Verhaltensforschung (unter Nutzung von Daten über Proteste,
Wahlenthaltung, politische Gewalt), der Einstellungsforschung
(Umfragedaten zum Vertrauen in politische Einrichtungen) oder der
Analyse öffentlicher Kommunikation.14
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-14>
Im Folgenden werden zur Überprüfung der beiden oben aufgeführten Thesen
zur Legitimation der Marktwirtschaft erste Ergebnisse eines
Forschungsprojektes am DFG-Sonderforschungs­bereich "Staatlichkeit im
Wandel" der Universität Bremen vorgestellt. Die für politische Ordnungen
erprobten Verfahren der Kommunikationsforschung mit der Untersuchung von
Legitimationsstatements in Qualitätszeitungen werden in abgewandelter
Form genutzt, um die öffentliche Rechtfertigung und Kritik der
wirtschaftlichen Ordnung (Marktwirt­schaft/Kapitalismus) und
wesentlicher Grundprinzipien (freier Markt, Wettbewerb, Privateigentum)
zu erkunden. Für einen Zeitraum von 14 Jahren (1998 bis 2011) wurden für
vier Länder (Schweiz, Deutschland, USA und Großbritannien) in je zwei
Qualitätszeitungen unterschiedlicher politischer Couleur bewertende
Aussagen zur Marktwirtschaft und ihren Grundprinzipien identifiziert
(vgl. Tabelle 1
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#tab1>). Mit
den so gewonnenen Daten lassen sich die Politisierungs- und die
Delegitimationsthese für ein Öffentlichkeitssegment überprüfen.


Tabelle 1 (zurück zum Text)

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#tab1-rueck>


Legitimationsintensität der Marktwirtschaft

Legitimationsstatements pro Land und Jahr

Jahr

Land

Gesamt

Schweiz Deutschland Großbritannien USA
1998

17



75



22



30

144
1999

9



31



41



13

94
2000

8



81



42



22

153
2001

36



79



46



16

177
2002

43



48



37



11

139
2003

29



61



20



3

113
2004

18



56



26



9

109
2005

20



107



27



4

158
2006

26



56



11



14

107
2007

28



68



58



6

160
2008

39



137



95



33

304
2009

30



169



106



48

353
2010

7



62



76



9

154
2011

74



131



102



42

349
Gesamt

384



1161



709



260

2514

Quelle: Pro Land wurden zwei meinungsführende, jeweils als mitte-links-
bis mitte-rechts-orientiert einzustufende Qualitätszeitungen
ausgewertet: Tagesanzeiger, Neue Zürcher Zeitung (Schweiz); Süddeutsche
Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Deutschland); Guardian, Times
(Großbritannien); New York Times, Washington Post (USA). Die Textanalyse
basiert auf der Methode der konstruierten Wochen: Für jedes Jahr wurden
vier konstruierte Wochen, eine pro Quartal, gebildet und ausgewertet;
vgl. S. Lacy et al.: Sample Size for Newspaper Analysis in Multi-Year
Studies, in: Journalism and Mass Communication Quarterly, 78. Jg.
(2001), H. 4, S. 836-845. Untersuchungseinheit sind einzelne Aussagen,
die sich auf die Marktwirtschaft oder ihre Prinzipien als
Legitimationsobjekt positiv oder negativ wertend beziehen, vgl. zur
Vorgehensweise: F. Nullmeier et al.: Prekäre Legitimitäten.
Rechtfertigung von Herrschaft in der postnationalen Konstellation,
Frankfurt a.M., New York 2010.



In allen untersuchten Ländern kommt es seit 2008 zu einem deutlichen
Anstieg der Äußerungen zur Legitimität von Kapitalismus und
Marktwirtschaft. Das Ausmaß der (positiven oder negativen)
Marktbewertung in der Schweiz und den USA bleibt aber auch in der Krise
recht gering, während in Großbritannien und Deutschland nahezu eine
Verdopplung der Legitimationsäußerungen zu verzeichnen ist. Die
Intensität der Marktbewertung steigt aber in allen Fällen bereits mit
der weltweiten Finanzmarktkrise, sinkt dann 2010 mit deren Abebben auf
einen erstaunlich niedrigen Stand, um dann 2011 unter dem Eindruck der
Eurokrise wieder die Zahlen von 2008 und 2009 zu erreichen oder auch zu
überschreiten. Die Politisierung der Märkte erfolgt mithin nicht erst
seit der Eurokrise. Sie ist nicht als eine Folge der europäischen
Krisenpolitik zu interpretieren, sondern tritt bereits drei Jahre früher
auf. Die ökonomischen Ereignisse scheinen unabhängig von der politischen
Reaktion eine Politisierung der Marktwirtschaft als ökonomischem
Ordnungsmodell zu bewirken.


Abbildung 1 (zurück zum Text)

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#abb1-rueck>


Delegitimationsniveau der Marktwirtschaft

Anteil der negativen Bewertungen in deutschen Qualitätszeitungen

32437.png

Quelle: eigene Berechnungen. Die Daten wurden im Team mit den
ProjektmitarbeiterInnen Dominika Biegon, Jennifer Gronau, Sebastian
Haunss, Falk Lenke, Henning Schmidtke und Steffen Schneider erhoben.



Über einen Zeitraum von 14 Jahren lässt sich für Deutschland (vgl.
Abbildung 1
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#abb1>)
beobachten, dass die Marktwirtschaft bzw. der Kapitalismus im
Öffentlichkeitssegment der Qualitätszeitungen in der Dauerkritik stehen.
Nur 2000 und 2001 überwiegt die positive Bewertung der Marktordnung,
ansonsten dominiert die Kritik. Ihren Höhepunkt erreicht diese bereits
2005 und verbleibt dann in der Finanz- und Schuldenkrise auf einem etwas
niedrigeren Niveau zwischen 73% und 80% aller Aussagen. Die Marktkritik
hat durch die Krisenentwicklung seit 2008 und durch die Schuldenkrise in
Europa seit 2010 keinen Auftrieb erhalten. Die Kapitalismuskritik war
vor der Krise bereits ausgesprochen verbreitet und hat sich in der Krise
nur auf hohem Niveau stabilisiert. Die Delegitimationsthese kann mit
diesen Daten nicht belegt werden. Es bestehen vielmehr Vorbehalte
gegenüber der Marktordnung, die auch unabhängig von der nationalen
Konjunkturlage und der internationalen Wirtschaftssituation formuliert
werden. Eine aktive Verteidigung und Rechtfertigung des Marktes bleibt
demgegenüber in einer minoritären Position. Das gilt sicherlich nicht
für die Wirtschafts­presse und muss auch in anderen Bereichen der
Medienöffentlichkeit so nicht gelten. Es zeigt aber, dass die Kritik und
Infragestellung der Marktwirtschaft gerade in den gehobenen Publika, die
eher von den gutsituierten und hochqualifizierten Gruppen der
Bevölkerung wahrgenommen werden, eine Stimme hat. Markt wird weder als
unbezweifelbar gültige Grundordnung des Ökonomischen einfach beschwiegen
noch wird sie gelobt oder mit Argumenten energisch verteidigt.

Diesem ersten Eindruck, der dazu verführen könnte, von einer
Legitimationskrise der Markt­wirtschaft zu sprechen, muss aber mit
anderen Ergebnissen aus dieser Untersuchung widersprochen werden. Die
Kritik des Kapitalismus hat nirgendwo die Kraft und Stärke eines so
immer wiederholbaren kohärenten Argumentationsgangs gewonnen. Die gegen
die Marktordnung gerichteten Stellungnahmen erfolgen vereinzelt und die
Kritikmuster streuen über das ganze Spektrum der möglichen Bewertungen.
Zwar dominiert die Kritik, aber sie ist unspektakulär, wenig fokussiert,
weithin ohne inneren Zusammenhalt, ja harmlos. Die Kritik reduziert sich
oft auf Kürzel, die eine Distanzierung ausdrücken, aber jede
Veränderungsabsicht offen lassen. Im deutschsprachigen Raum hat die
Metapher "Turbokapitalismus" diese Rolle als Anker der Kritik
übernommen. Doch mit jeder Attribuierung - hier in Form eines
Kompositums - wird nur eine Variante des Kapitalismus negativ getroffen
und zugleich die Möglichkeit offen gelassen, dass es andere Kapitalismen
geben könnte, auf die die Kritik nicht zutrifft. Der Allgemeinheitsgrad
der Kritik sinkt, wenn nicht mehr die Marktwirtschaft oder der
Kapitalismus ohne Zusatz angegriffen sind.

Versuche, die in der Öffentlichkeit zirkulierenden
Delegitimationsargumente nach den großen theoretischen Vorbildern zu
gruppieren, führen zudem nicht dazu, dass sich Cluster abzeichnen. Die
Kritik bündelt sich weder zu marxistischen, anarchistischen,
genossenschaftlichen, linkskeynesianischen oder sonstigen aus der
ökonomischen und politischen Ideengeschichte der Kapitalismusanalyse
bekannten Mustern. Auch die Umkehrung schumpeterianischer,
neoklassischer, hayekianischer, ordoliberaler oder
evolutionsökonomischer Begründungs­muster der Marktwirtschaft findet
nicht statt. Noch am ehesten lässt sich eine moralische Kritik der
Marktwirtschaft als zusammenhängendes Cluster von Argumenten
identifizieren. Drei einzelne Argumente sind hier tragend:

1. Die Marktordnung zerstöre die moralischen Grundlagen der
Gesellschaft, sie korrumpiere die Menschen und mache sozialen
Zusammenhalt und Solidarität unmöglich.
2. Cliquenwirtschaft und mangelnde Führungstugenden kennzeichneten die
gegenwärtige Gestalt des Kapitalismus.
3. Es sei die pure Gier, die im Turbokapitalismus regiere, die Tugenden
des ehrbaren Kaufmanns seien dem weit über jede vernünftige
Strategie der Einkommenserzielung hinausgehenden Streben nach Geld
um des Geldes willen gewichen.

Gerade das letzte Argument bezieht sich vor allem auf die Träger der
Marktwirtschaft: die Manager, Aktionäre, "Finanzjongleure", Unternehmer
und Banker. In der an politischen Ordnungen entwickelten
Legitimationstheorie gilt aber eine Kritik, die nicht die Ordnung als
Ganzes, sondern nur die Träger dieser Ordnung als Kollektiv angreift,
als vergleichweise am wenigsten weitreichend.15
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-15>
Die moralisierende Kritik hat sich in der Finanz- und Schuldenkrise
weiter intensiviert. Gewachsen sind ebenso die Zweifel an der
Glaubwürdigkeit, Effizienz und Effektivität dieser Ordnung. Dagegen
finden Argumente, die die mangelnde Berücksichtigung der Interessen der
Bevölkerung oder fehlende demokratische Verantwortung der ökonomischen
Akteure beklagen, in der Krisenzeit nach 2008 keine erhöhte Zustimmung.
Die Demokratisierung der Ökonomie ist gerade in der Krise kein Thema.
Zusammenfassend: Die Infragestellung der Marktwirtschaft ist weit
verbreitet, aber wenig fokussiert. Die Dauerkritik an der Marktökonomie
wirkt eher wie ein mitlaufendes Rauschen, von einer Legitimationskrise
des Kapitalismus kann keine Rede sein.


Elitensouveränität und die Verteidigung des Marktes

Die Marktwirtschaft gerät danach weit weniger als erwartet unter
Legitimationsdruck. Die zentrale Auseinandersetzung wird auf dem Terrain
des Politischen ausgetragen. Nicht der Markt muss sich verteidigen,
sondern die EU - und mit ihr die Idee einer supranationalen Demokratie.
Statt weiterer Demokratisierung deuten die europäischen Entwicklungen
der letzten drei Jahre auf ein ganz anderes Leitbild hin: auf eine
marktkonforme Ausgestaltung der EU. Als eher intergouvernemental denn
supranational regierte Union bei marginaler Rolle des Europäischen
Parlaments soll sich die politische Gestalt Europas den Notwendigkeiten
einer funktionsfähigen Währungsunion und den Anforderungen der
Finanzmärkte beugen.

Wie könnte aber die Legitimität einer derart marktgerechten
Ausgestaltung der Europäischen Union begründet werden? Kann man auf
tradierte Konzepte zurückgreifen? Als stabile Legitimitätskonstrukte
haben sich die demokratische Legitimität und die Staatengleichheit
erwiesen. Demokratische Legitimität beruht auf politischer Gleichheit in
einem System freier Wahlen sowie der Sicherung der Menschenrechte. Die
allgemeine Gleichheit der Individuen bei Wahlen (als den entscheidenden
Akten der Mehrheitsbildung in einem politischen System) ist hier das
entscheidende Prinzip. Gleichheit ist auch der zentrale Maßstab im
Modell der Staatengleichheit auf internationaler Ebene. Durchbrechungen
der (Stimm-)Gleichheit der Staaten wie im UN-Sicherheitsrat treffen
entsprechend auf entschiedene Kritik: hier setzt die Machtstärke die
allein legitime Gleichheitslogik außer Kraft. Die heutige EU könnte
aufbauend auf einer Kombination aus Staaten- und Bürgergleichheit
legitimiert werden.16
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-16>
Jedoch hat die Bürgergleichheit durch die weitgehende Nichtbeachtung des
Europäischen Parlaments in der Krisenpolitik stark an Bedeutung
verloren. Und auch von Staatengleichheit kann nur noch bedingt die Rede
sein. Die Asymmetrien haben sich zwischen den Mitgliedstaaten durch den
Aufbau der Rettungsfonds derart verändert, dass nicht Stimmen- oder
rechtliche Gleichheit, sondern finanzielle Abhängigkeiten den Ausschlag
geben.

Die aktuelle EU-Krisenpolitik begünstigt dagegen ein Legitimitätsmodell
der bloßen Elite-Verantwortung. Die politischen Lösungen werden nicht
mehr in den durch Wahlen direkt legitimierten Gremien getroffen, sondern
in intergouvernementale Kanäle, transnationale Verwaltungsrunden und
nicht-majoritäre Experteninstitutionen ausgelagert. Die
Marktkompatibilität von Entscheidungen soll über Eliten- und
Experten-Entscheidungen gesichert werden. Sie geht in diesem
Verständnis, das sich ganz auf die wirtschaftlichen und sozialen
Ergebnisse konzentriert, jeder demokratischen Entscheidung voraus.
Wahlen können nur innerhalb eines vorab gesetzten Rahmens akzeptabel
sein, d.h. aber auch, dass sie in ökonomischen Grundsatzfragen als
Wahlen ohne wirkliche Wahlmöglichkeiten funktionieren sollen. Europa und
die Märkte können es sich - so die Logik dieses Denkansatzes - aufgrund
der massiven zwischenstaatlichen Interdependenzen nicht mehr leisten,
dass einige Länder auf demokratischem Wege Mehrheiten organisieren und
Regierungen bilden, die eine abweichende Politik einschlagen. Die
Politik übernimmt damit auch die Aufgabe, die Marktwirtschaft vor Kritik
und Delegitimation zu schützen. Sie verbündet sich mit ihr zu einer
Verantwortungsgemeinschaft der Eliten, in der die marktliche Dynamik
aber kaum begrenzt, sondern nur politisch aufgefangen und in ihren
Folgen an die Bürger kommunikativ vermittelt wird. Ordnungspolitische
Argumentationen treten zurück hinter der Aufgabe der Funktionsfähigkeit
in einem weltweiten Wettbewerb, in dem Größenvorteile eine wichtige
Rolle spielen. Nicht Allokationseffizienz und freies Unternehmertum sind
die Ankerwerte einer solchen Markt­ökonomie, sondern nur das Mithalten
in einem Marktmachtkampf.

Demokratie gerät dabei in eine nur dienende Rolle, so dass die Rede von
Postdemokratie gerechtfertigt erscheint. Das Modell der Postdemokratie,
das Colin Crouch zuerst 2003 entwickelt hatte, war das einer Demokratie
als Fassade.17
<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-17>
Das sich heute in der EU abzeichnende Legitimitätsmodell der
Eliten-Verantwortung lässt die Fassade als solche offen erkennen. Es
verdeckt die Entmachtung der Demokratie nicht mehr. Die öffentlichen
Auseinander­setzungen, die sozialen Proteste und selbst die
Regierungswechsel werden in ihrer Bedeutung marginalisiert. Das Konzept
der Fassadendemokratie haben sich die entscheidenden Akteure in Europa
in ihrem Handeln zu eigen gemacht. Postdemokratische Politik ist nunmehr
Programm. Die Volkssouveränität hatte einst die Fürstensouveränität
abgelöst, nun könnte es geschehen, dass sie von der Elitensouveränität
als neuem Legitimitätsmodell ersetzt wird.




Title: Legitimation of the Market Economy

Abstract: The article presents an empirical study of the legitimation of
the market economy in the public sphere and examines whether criticism
of the market economy has increased as a result of the euro crisis. The
research results support the hypothesis of a transformation of the
legitimacy basis for the market economy and democracy. The traditional
model of legitimation is based on separate principles for the market
economy and for democracy. An alternative model, in which democracy must
also meet standards of efficiency and of political participation, has
its limitation. A third model, the model of elite responsibility, is
currently on the rise.

JEL Classification: A13, P10, P16

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*

1

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-1-backlink>
Vgl. C. Deutschmann: Die Legitimität des Kapitalismus: eine
wirtschaftssoziologische Sicht, in: A. Geis, F. Nullmeier, C. Daase
(Hrsg.): Der Aufstieg der Legitimitätspolitik, in: Leviathan
Sonderband 27, Baden-Baden 2012, S. 245-261; W. Menz: Die
Legitimität des Marktregimes, Wiesbaden 2009; R. A. Posner: A
Failure of Capitalism, Cambridge MA 2009.

*

2

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-2-backlink>
Vgl. J. Beckert, C. Deutschmann (Hrsg.): Wirtschaftssoziologie, in:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft
Nr. 49, Wiesbaden 2009; B. J. Cohen: International Political
Economy: An Intellectual History, Princeton, Oxford 2008.

*

3

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-3-backlink>
Ohne Chance auf Anerkennung in den westlichen Demokratien ist mit
den verschiedenen islamistischen Bewegungen eine politische Kraft
wirksam, die an einem Alternativmodell zur Demokratie festhält.

*

4

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-4-backlink>
Heute gewinnt jedoch die Annahme an Plausibilität, dass Demokratie
und Kapitalismus sich global nicht auf Dauer verbinden lassen. Vgl.
D. Rodrik: Das Globalisierungsparadox. Die Demokratie und die
Zukunft der Weltwirtschaft, München 2011.

*

5

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-5-backlink>
Vgl. G. Teubner: Verfassungsfragmente. Gesellschaftlicher
Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin 2012.

*

6

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-6-backlink>
Vgl. F. A. von Hayek: Recht, Gesetz und Freiheit. Eine Neufassung
der liberalen Grundsätze der Gerechtigkeit und der politischen
Ökonomie, Tübingen 2003.

*

7

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-7-backlink>
G. Teubner, a.a.O., S. 140.

*

8

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-8-backlink>
Vgl. unter anderem A. Buchanan, R. O. Keohane: The Legitimacy of
Global Governance Institutions, in: Ethics and International
Affairs, 20. Jg. (2006), H. 4, S. 405-437; R. O. Keohane, S. Macedo,
A. Moravcsik: Democracy-Enhancing Multilateralism, in: International
Organization, 63. Jg. (2009), H. 1, S. 1-31; J. A. Scholte (Hrsg.):
Building Global Democracy: Civil Society and Accountable Global
Governance, Cambridge 2012; A. Przeworski et al. (Hrsg.): Democracy,
Accountability and Representation, Cambridge 1999; P. Pettit:
Republicanism: A Theory of Freedom and Government, Oxford 1997; L.
Segerlund: Making Corporate Social Responsibility a Global Concern.
Norm Construction in a Gobalizing World, Farnham 2010.

*

9

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-9-backlink>
Vgl. D. Biegon, J. Gronau: Die Legitimationsbemühungen
internationaler Institutionen, in: A. Geis, F. Nullmeier, C. Daase
(Hrsg.), a.a.O., S. 171-189.

*

10

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-10-backlink>
Vgl. P. Statham, H.-J. Trenz: The Politicization of Europe.
Contesting the Constitution in the Mass Media, London, New York 2013;
R. Koopmans, P. Statham (Hrsg.): The Making of a European Public
Sphere. Media Discourse and Political Contention, Cambridge 2010.

*

11

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-11-backlink>
So z.B. P. Statham, H.-J. Trenz, a.a.O.

*

12

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-12-backlink>
L. Hooghe, G. Marks: A Postfunctionalist Theory of European
Integration. From Permissive Consensus to Constraining Dissensus,
in: British Journal of Political Science, 39. Jg. (2009), H. 1, S. 1-23.

*

13

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-13-backlink>
W. Schelkle: Policymaking in Hard Times: French and German Responses
to the Eurozone Crisis, in: N. Bermeo, J. Pontusson (Hrsg.): Coping
with Crisis. Government Reactions to the Great Recession, New York
2012, S. 130-161.

*

14

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-14-backlink>
H. Schmidtke, S. Schneider: Methoden der empirischen
Legitimationsforschung, in: A. Geis, F. Nullmeier, C. Daase (Hrsg.),
a.a.O., S. 225-242.

*

15

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-15-backlink>
Vgl. P. Norris: Democratic Deficit: Critical Citizens Revisited,
Cambridge 2011.

*

16

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-16-backlink>
Vgl. J. Habermas: Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011.

*

17

<http://www.wirtschaftsdienst.eu/archiv/jahr/2013/13/2922/#footnote-31444-17-backlink>
Vgl. C. Crouch: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008.




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Sonnigen Tag, Stephan Schwarz







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