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ag-drogen - Re: [AG-Drogen] Prohibition tötet

ag-drogen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Mailingliste der AG Drogen- und Suchtpolitik

Listenarchiv

Re: [AG-Drogen] Prohibition tötet


Chronologisch Thread 
  • From: Guido Weyers <guidoweyers AT googlemail.com>
  • To: Mailingliste der AG Drogen <ag-drogen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Drogen] Prohibition tötet
  • Date: Sun, 05 Feb 2012 10:00:44 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-drogen>
  • List-id: Mailingliste der AG Drogen <ag-drogen.lists.piratenpartei.de>

Am 04.02.2012 23:54, schrieb Christine Zander:
Hallo Christine,

dass es Parallelen zur Alkoholprohibition gibt bestreite ich ja gar nicht. Ich bin nur der Auffassung, dass die Vokabel Prohibition

a) bereits besetzt ist
b) nicht annähernd die heutige Situation beschreibt
c) vor allem aber auch schnell zu Missverständnissen führen kann 


zu b:
Die Alkoholprohibition in den USA betraf einen einzigen Staat, auch wenn es sich um ein Gebilde aus Bundesstaaten handelt. Eine Globalisierung war bestenfalls bei der Rekrutierung der Mafiamitglieder erkennbar. Bei der Bekämpfung der Alkoholschmuggler war eine einzige Behörde zugange und die Anzahl der Betroffenen Täter ging in ein paar Tausend. Heute reden wir weltweit von Millionen.
Die heutige Situation der Konsumenten ist immer auch von der Entwicklung in der ganzen Welt bestimmt. Wenn es gelingt in Europa eine akzeptierende Drogenpolitik umzusetzen hat das Auswirkungen auf die Produzenten in der ganzen Welt. 
Und vor allem: Es ging um einen einzigen Stoff: Alkohol - heute geht es um so viel mehr!


zu c:
Prohibition: Verbot zum Zwecke des Verhinderns des Drogenkonsums usw.
Hier und heute: Verhindern des Konsums von psychoaktiven Substanzen zur Berauschung

Deine politischen Gegner werden Dich fragen, ob der Gedanke an eine zumindest anzustrebende Drogenabstinenz des Einzelnen von Dir komplett abgelehnt wird. Wenn Du diese Frage ohne Erklärung bejahst, wirst Du als Irrer abgetan und ein Teil der bisher noch unentschiedenen Bevölkerung wird Dir nicht mehr zuhören.

Ich fasse mal ungefähr zusammen wie ich es verstehe:
Ja, die Piraten sind gegen eine verordnete Drogenabstinenz, gegen Verbote, gegen Verfolgung der Konsumenten und so weiter und so weiter. Soweit ich es verstehe vertreten die Piraten die Auffassung, dass die heutige repressive Drogenpolitik von einer akzeptierenden Politik abgelöst werden muss. Da stimmen wir    völlig überein hoffe ich. 

Aber jetzt kommts: Auch in Zeiten einer akzeptierenden Drogenpolitik sollte staatliches Handeln primär darauf ausgerichtet sein in der Bevölkerung ein Bewusstsein zu fördern, das dem Konsum von Drogen zumindest kritisch gegenüber steht. Kritisch im Sinne von "brauche ich das?". 

Eine Drogen-Prohibition wird von mir nicht rundheraus abgelehnt, denn im Wortsinn bedeutet die Prohibition ja nur das Verhindern. Ich bin nicht dagegen eingestellt, dass Drogenhilfevereine versuchen Schwerabhängigen Wege aus der Sucht aufzuzeigen, inklusive des Versuchs endgültig abstinent zu werden. Das gilt für Alkoholiker ebenso wie für Spielsüchtige, für Tablettenfresser wie den Dauerkiffer. Die entsprechenden Suchteinrichtungen arbeiten mit ihren Patienten um das Ziel einer endgültigen Abstinenz zu erreichen. Diese Bemühungen können ebenfalls unter dem Begriff Prohibition zusammen gefasst werden. Merkst Du in welche Richtung das geht? Ich bin auf Seiten der Piraten. Aber wenn mir schon all diese Argumente einfallen, was machen erst die Redakteure der Blödzeitung draus wenn sie sich mit dem Kampf der Piraten gegen die heutigen Zustände befassen? 

Ich bin nicht per se gegen die Prohibition, also das Verhindern des Drogenkonsums, eingestellt, sondern gegen die staatlichen Mittel mit denen gegenwärtig versucht wird eine Verhinderung des Drogenkonsums repressiv umzusetzen. Ich verurteile die Repression und die damit einher gehende Entmündigung des freien Bürgers.
Die drogenfreie Gesellschaft ist eine Illusion, stimmt. Aber dir und mir schwebt sicher keine Gesellschaft vor, in der es zwingend erforderlich wird Drogen zu konsumieren. Der menschliche Organismus funktioniert eigentlich am besten ohne die Zufuhr welcher auch immer gearteter Drogen. Und es sollte erstrebenswert sein, drogenfrei zu leben. Das sollten wir bei aller Kritik und bei allen Änderungsvorderungen immer im Auge behalten und vor allem sollten wir dies auch immer wieder in der Öfentlichkeit betonen.

Letztlich geht es ein wenig um die Frage ob wir einen Gesellschaftsentwurf haben in den die Vorstellungen der Piraten hinein passen. Es wird Kompromisse geben und die Drogengesetzgebung wird auch immer einen Teil repressiver Maßnahmen seitens des Staates beinhalten. Sei es in Steuerfragen, Jugendschutz, Qualitätssicherung, usw. Gänzlich ohne Regulierung wird es zumindest übergangsweise kaum gehen. 

Ich finde sicher noch weitere Argumente gegen die Verwendung des Begriffs Prohibition. Sorry, ich bin nicht sehr schnell. ;-) 

bis denne
Micha


Hallo Micha,

Entschuldige, dass meine Antwort so lang gedauert hat. Hatte die letzten Tage einfach superviel zu tun. Die Bedeutung des Wortes Prohibition geht ja über das reine verhindern hinaus. Ich persönlich halte mich ans Englische und Französische. Im Englischen steht es zwar auch für verhindern (aber im harten Sinn) – es steht aber auch für Verbot und Entmündigung. Ich will mich jetzt auch nicht um ein Wort mit dir streiten – ich bin offen für andere Vorschläge. Mir geht es eher um die Argumentation und um die Fragen, die du aufwirfst. Vielleicht sollte man hier wirklich mal den "Hausfrauentest" machen. Ich habe leider kaum "Normalbürger" in meinem Bekanntenkreis – aber die wenigen werde ich befragen, was sie darunter verstehen. Am besten man stellt sich auf die Straße und befragt mal Passanten - leider fehlt mir die Zeit. Bei der Kälte im moment funktioniert das eh nicht.

Mich erstaunt deine Deutung des Wortes einfach. Ich denke ein Erwachsener sollte mit sich selbst tun können, was er möchte. Das gehört zu den grundliegenden Bürgerrechten. Das heisst aber nicht, dass ich Drogen gegenüber nicht kritisch eingestellt bin und natürlich ist es besser, wenn Menschen es schaffen, ohne Hilfsmittel zu leben. Natürlich sollten Hilfeeinrichtungen ausgebaut werden. Vor allem ist es wichtig den Menschen einen selbstverantworlicheren Umgang mit Suchtmitteln aufzuzeigen. Momentan wird nur Druck erzeugt – auf Therapeuten, wie auf Patienten. Menschen neigen leider dazu Ihre eigene Verantwortung zu ignorieren. Natürlich heißt das nicht, dass wir alle mit Drogen leben sollen. Aber die Menschen, die es brauchen, sollen es nehmen können. Du hast Recht, eine Drogenfreie Gesellschaft ist sicher unter den heutigen Bedingungen eine Illusion (es gibt wissenschaftler die sagen Rausch gehöre zur Natur des Menschen) – aber ohne den Menschen Freiheit zu lassen, wird man so ein Ziel sowieso nie erreichen. Gerade bei Drogen hat jeder seine individuelle Geschichte und es gibt für jeden einen individuellen Zeitpunkt aufzuhören. Es funktioniert nicht, den Menschen die Pistole auf die Brust zu setzen und mit Strafen zu drohen. Das macht sie leider immer nur kaputter. Aber das weißt du sicher auch selbst.

Es ist mir klar, dass wir unsere Ziele sicher (wenn überhaupt) nur in kleinen Baby-Schritten erreichen werden. Aber es ist wichtig, aufzuzeigen welche Dinge hier schieflaufen. Und an das Thema Drogen wagt sich keiner – weil man mit viel Gegendruck bis hin zur Diffamierung rechnen muss. Natürlich wird es ohne Regulierung nicht gehen. Ich bin auch klar dafür, dass der Staat hier regulierend eingreift. Alles komplett zu privatisieren wäre kontraproduktiv. Wahrscheinlich ist eine legalisierung in Schritten. Jede maßnahme die getroffen wird, wird analysiert und die Ergebnisse werden im nächsten Step integriert. Denkbar ist sicher auch Lizenzen an Privatleute zu vergeben, die aber staatlich kontrolliert werden. Aber bis dahin wird es sicher noch einige Zeit dauern und einige Schritte vorhergehen. Momentan glaube ich zwar nicht, dass ich das noch miterleben werde. Aber man darf ja träumen...

Ich werde jetzt einfach mal ein paar Menschen zum Wort Prohibition befragen - ich bin auch nicht strikt gegen eine Änderung. Vielleicht sollten wir einfach mal abstimmen, was jeder in der Ag so darüber denkt.

LG, Christine



Hallo Micha,

ich bin seit 10 Jahren im Suchthilfesystem als Suchttherapeut und Berater tätig und möchte ein paar wesentliche Differenzierungen deiner Ausführung anmerken.

Zitat: "Die entsprechenden Suchteinrichtungen arbeiten mit ihren Patienten, um das Ziel einer endgültigen Abstinenz zu erreichen."

Das ist so wie es da steht zu allgemein und deshalb nicht ganz korrekt. Ich arbeite zur Zeit im ambulanten Bereich in folgender Einrichtung seit ca. 1,5 Jahren.

http://www.awo-potsdam.de/cms/index.php?aid=232&bid=234

Wir haben im Jahr im Durchschnitt alleine in der Stadt Potsdam schätzungsweise bis zu 1000 Beratungs- und Therapiekontakte zu Problemkonsumenten, Mißbläuchlern und Abhängigen aller Drogen und deren Angehörigen.
Interessanterweise beziehen sich dabei ca. 80% der Kontakte auf Alkohol. Zu Beginn einer Beratung müssen wir uns erst einmal ein Bild darüber machen, ob wir es mit Problemkonsumenten, Mißbräuchlern oder Abhängigen zu tun haben und
wie deren entsprechende Motivationslage ist. Danach arbeiten wir entsprechend entweder akzeptierend und empfehlen Programme, wie zum Beispiel SKOLL,  http://www.skoll.de/
für die Personen, die keinen Abstinenzwunsch haben und ihren Konsum zunächst lediglich kontrollieren, reduzieren wollen. Dies sind in der Regel entweder Mißbräuchler oder Konsumenten, die noch keine ausreichende Therapiemotivation haben oder abhängige Konsumenten, die sich in der sogenannten, ambivalenten Phase ihrer Suchtentwicklung befinden, also auch nicht abstinenzorientiert sind.

Anders sieht es in der sogenannten stationären Suchthilfe aus, also in Einrichtungen, die eine sogenannte staionäre Rehabilitation oder auch Entwöhungsbehandlung anbieten. Diese Einrichtungen richten sich ausschließlich an abhängige Konsumenten, die eine Therapie wollen und das Ziel haben abstinent zu leben. Diese Menschen müssen clean in die Einrichutng kommen und über eine entsprechende Abstinenzmotivation verfügen. Wichtig ist im Vorfeld, und das machen wir dann wieder in der ambulanten Drogenberatung, ein sehr ausführlichen Sozialbericht zu schreiben, um die Motivationslage zu überprüfen. Stellt sich dabei heraus, dass diese unzureichend ist, kommt es, wenn auch recht selten vor, dass Anträge auf entwöhnugsbehandlung abgelehnt werden.

Vorher arbeite ich sieben Jahre lang in einer stationären Rehaklinik, speziell für drogenabhängige und gefährdete Jugendliche. http://www.balance-seilershof.de/
Dies ist eine Langzeiteinrichung, in der die Jugendlichen mehrer Jahren waren, ihren Schulabschluss nachholen konnten oder eine Lehre anfangen und zu Ende führen konnten.
Hier galt absolutes Konsumverbot und Abstinenzpflicht, dass bei Zuwiderhandlung konsequent sanktioniert wurde (bis hin zur Entlassung), was auch absolut notwendig war, zum Schutz der Klientengemeinschaft.

Interessant ist noch eine Zahl zu den Erfolgsaussichten einer Therapie. In unserer ambulanten Suchtberatungsstelle kann man auch eine ambulante Reha machen, bei der die Erfolgsaussichten (dauerhafte zufriedene Abstinenz) bei ca. 80% liegt.
In der stationären Reha liegt sie in der Regel bei nur ca. 50%.

Gruß,

Guido

Gru




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