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ag-drogen - [AG-Drogen] lesenswert, spiegelt unsere Position

ag-drogen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Mailingliste der AG Drogen- und Suchtpolitik

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[AG-Drogen] lesenswert, spiegelt unsere Position


Chronologisch Thread 
  • From: "Georg von Boroviczeny" <georg AT von-boroviczeny.de>
  • To: <ag-drogen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: [AG-Drogen] lesenswert, spiegelt unsere Position
  • Date: Thu, 2 Dec 2010 07:14:06 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-drogen>
  • List-id: Mailingliste der AG Drogen <ag-drogen.lists.piratenpartei.de>

http://www.jungewelt.de/2010/12-01/016.php

 

01.12.2010 / Feuilleton / Seite 13Inhalt

»Aber bitte nicht in der Nachbarschaft«

Über HIV-Schnelltests, die Toten der Drogenpolitik und Anwohnerproteste gegen Druckräume. Gespräch mit Dirk Schaeffer

Interview: Markus Bernhardt

unbenannt

Dirk Schaeffer ist Referent für Drogen und Strafvollzug in der Bundesgeschäftsstelle der Deutschen AIDS-Hilfe mit Sitz in Berlin

Am heutigen Welt-AIDS-Tag finden überall in der BRD Gedenkveranstaltungen für an AIDS verstorbene Menschen statt. Während sich die Berichterstattung maßgeblich um die Infektionszahlen von Männern, die Sex mit Männern haben, dreht, geraten Betroffenengruppen wie Drogenkonsumenten in den Hintergrund. Wie ist es um das Infektionsrisiko von Heroingebrauchern bestellt?

Richtig ist, daß ein großer Anteil aller neuen HIV-Diagnosen Männern gestellt wird, die Sex mit Männern haben. Das Robert-Koch-Institut geht in seiner aktuellen Schätzung davon aus, daß in Deutschland etwa 70000 Menschen mit HIV oder AIDS leben. Etwa 3000 haben sich demnach im Jahr 2010 neu infiziert.

Wer Drogen intravenös konsumiert, gehört nach wie vor zu denen, die von HIV- und Hepatitisinfektionen am meisten bedroht sind. Auch wenn das Koch-Institut im Jahr 2009 nur 100 neudiagnostizierte HIV-Infektionen bei diesen Drogenkonsumenten dokumentiert hat, dürfen wir sie nicht aus den Augen verlieren. Wir wissen, daß sie HIV-Testangebote bei Ärzten oder im Gesundheitsamt nur selten nutzen. Gründe sind das langen Warten auf das Testergebnis und fehlendes Vertrauen zu staatlichen Einrichtungen oder Ärzten.

Mittlerweile werden vielerorts auch HIV-Schnelltests angeboten. Welchen Vorteil haben diese und wie sicher ist das Ergebnis?

Der HIV-Schnelltest bietet gerade für die Drogenkonsumenten viele Vorteile. Die problematische Blutentnahme aus der Vene entfällt, da ein Tropfen Blut aus der Fingerbeere bereits ausreicht. Darüber hinaus paßt die Dauer bis zur Mitteilung des Testergebnisses, zirka 20 Minuten, besser in die Tagesstrukturen und Lebenskontexte dieser Zielgruppe.

Ein soeben beendetes Modellprojekt in einer niedrigschwelligen Anlaufstelle der AIDS-Hilfe Dortmund, bei dem Drogenkonsumenten ersmals der HIV-Schnelltest angeboten wurde, zeigt, welche Potentiale diese neue Testform mit einem begleitenden Beratungsangebot bietet. Mehr als 170 Heroinkonsumenten nahmen dieses Angebot in einem für sie vertrauten Umfeld an. Nach Aussage der Projektteilnehmer führt das Wissen um den eigenen Infektionsstatus oft zu einem weniger risikoreichen Drogenkonsum- und Sexualverhalten.

Wie lassen sich die Lebensbedingungen von Drogengebrauchern konkret verbessern?

In den letzten Jahren wurde für die, die Drogen spritzen, ein vielschichtiges Angebot geschaffen. Der Ausbau der Substitutionsbehandlung mit Methadon oder Buprenorphin sowie eine fast flächendeckende Verfügbarkeit von Spritzen, Nadeln und Zubehör haben dazu beigetragen, HIV-Infektionen zu verhindern und gesundheitliche Risiken zu reduzieren. Die gegenwärtige Drogenpolitik vertraut jedoch leider immer noch auf das untaugliche Mittel der Prohibition und Strafverfolgung, um den Drogengebrauch und -handel zu kontrollieren. Der erwünschte Rückgang des Konsums bleibt seit vielen Jahrzehnten weitgehend aus. Statt dessen produziert dieser Ansatz der Kriminalisierung täglich zehntausendfaches Leid von Drogen gebrauchenden Menschen. Die Linderung dieser Folgen kann nicht das einzige Ziel bleiben.

Sondern?

Um Kontrolle über illegal gehandelte Drogen zu gewinnen, strebt die Deutsche AIDS-Hilfe eine komplette Neuorientierung in Form einer Legalisierung an. Hierbei geht es nicht um die freie Zugänglichkeit von Drogen – ganz im Gegenteil. Mit die Übernahme von staatlicher Kontrolle gilt es, Jugend- und Gesundheitsschutz zu betreiben, den Schwarzmarkt auszutrocknen und kriminelles Handeln deutlich zu reduzieren.

Eine flächendeckende Versorgung mit sogenannten Druckräumen, in denen Heroin und andere Drogen unter hygienischen Umständen konsumiert werden können, ist nicht gewährleistet. Vielerorts kommt es sogar zu Protesten von Anwohnern…

Grundsätzlich wäre es möglich, daß jedes Bundesland solche Räumlichkeiten einrichtet. Bayern, Rheinland-Pfalz und andere weigern sich. Studien zeigen, daß solche Drogenkonsumräume Leben retten, indem Überdosierungen schnell und adäquat behandelt werden können. Darüber hinaus tragen solche Angebote dazu bei, Infektionen wie HIV und Hepatitis zu vermeiden. Der öffentliche Raum wird entlastet, und Drogenkonsumenten werden weiterführende Hilfsangebote gemacht. Anwohnerproteste dagegen gehören heute einfach dazu. Alle wollen diesen armen Menschen natürlich helfen, aber bitte nicht in der eigenen Nachbarschaft!

Nürnberg wird in diesem Jahr einen traurigen Rekord aufstellen. Dort gibt es, bezogen auf die Bevölkerungszahl, deutschlandweit die meisten Todesopfer in Folge des Konsums illegaler Drogen…

Trotz einer parteiübergreifenden Initiative für die Einrichtung von Drogenkonsumräumen dort und in München, die von Ärzten, Wissenschaftlern und Praktikern der Drogenarbeit unterstützt wird, setzt der bayerische Gesundheitsminister Markus Söder (CSU) immer noch auf eine Blockadehaltung.

Was ist eigentlich aus der Behandlung von Opiatabhängigen mit synthetisch hergestelltem Heroin, dem sogenannten Diamorphin, geworden?

Nach der Novellierung des Bundesgesetzes im Jahr 2009 ist leider große Ernüchterung eingekehrt. Die geltenden Richtlinien, unter denen die Krankenkassen diese Behandlung bezahlen, sind schlicht praxisfern und verhindern den vom Gesetzgeber gewünschten bedarfsgerechten Ausbau dieses Angebots. Bis heute ist keine neue Ambulanz oder Einrichtung eröffnet worden, in der Menschen die für sie überlebenswichtige Behandlung erhalten. Das sagt alles.

 

 

[georgberlin]

Käpt’n der Crew ‚Tiberia‘

Koordinator AG Drogen

Georg v. Boroviczeny

 




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