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Betreff: Mailingliste des Kreisverbands Ennepe-Ruhr der Piratenpartei
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Re: [Ennepe-Ruhr] Antrag an die Kreismitgliederversammlung: Übernahme des "Leitfaden für eine gendergerechte Sprache" von digitalCourage e.V.
Chronologisch Thread
- From: Karsten Düsterloh <kd-piratenliste-nrw AT duesterloh.eu>
- To: nrw-ennepe-ruhr AT lists.piratenpartei.de
- Subject: Re: [Ennepe-Ruhr] Antrag an die Kreismitgliederversammlung: Übernahme des "Leitfaden für eine gendergerechte Sprache" von digitalCourage e.V.
- Date: Sun, 10 Jul 2016 22:20:28 +0200
Moin!
Wenn sonst keiner mag, übernehme ich halt die Gegenrede. ;-)
Stefan Borggraefe aber hob an zu reden und schrieb:
> Der vKV Ennepe-Ruhr-Kreis übernimmt den "Leitfaden für eine
> gendergerechte Sprache" des digitalCourage e.V. und wendet ihn von
> nun an für die schriftliche Kommunikation nach außen an.
…
> Der Leitfaden ist unter
> https://digitalcourage.de/themen/feminismus/leitfaden-fuer-eine-gendergerechte-sprache
> zu finden und enthält auch eine Begründung, warum das eine gute
> Sache ist. Die darin formulierten Regeln führen meiner Meinung nach
> zu einem geschlechtergerechteren Denken ohne dabei für größere
> sprachliche Unfälle zu sorgen.
Sehe ich anders, dazu unten mehr.
> Unsere Partei diskriminiert niemanden aufgrund seines Geschlechts.
Eben.
> Trotzdem wird den Piraten oftmals vorgeworfen eine männlich
> dominierte Veranstaltung zu sein. Unsere Mitgliederzusammensetzung
> entspricht leider diesem Vorwurf. Deshalb halte ich es für eine gute
> Idee, diese Möglichkeit zu nutzen unser eigenes Denken zu schärfen
> und auch nach außen zu zeigen, dass wir für Gleichberechtigung sind.
Der Abschnitt sagt deutlich, daß es also Symbolpolitik sein soll …
tl;dr:
Was stört mich also?
1. Die Begründung des Antrags
2. Der Inhalt des Leitfadens
3. Die in (1) und (2) fehlende Auseinandersetzung mit dem vorgeblich
durch sie gelösten Problemfeld und der (Nicht-)Lösung selbst.
Böse formuliert ist die Verwendung Leitfadens selbst eigentlich
*diskriminierend* …
Im Detail:
1. Die Begründung des Antrags
Weil ein Großteil der aktiven Kreismitglieder offenbar männliche weiße
Cisheteros, mithin also überpriviligiert, sind, soll durch Anwendung des
Leitfadens in der Außenwirkung vermittelt werden, „dass wir für
Gleichberechtigung sind“.
Was ohne den Leitfaden offenbar niemand sieht?
Auch unter einem solchen Leitfaden ändert sich an der Zusammensetzung
der Mitglieder nix, wegen Gendersternchen/-unterstrichen/-punkten tritt
niemand den Piraten bei, der es ohne nicht auch täte.
Mir fehlt also der konkrete Nutzen jenseits eines „wir sind Teil der
linken Mainstreams, denn wir haben unreflektiert Aktionismus verbreitet“.
„Liebe Mitsklavenhalterinnen und Mitsklavenhalter“ wird ja nicht besser,
wenn es ein Gendersternchen bekommt.
Die Verwendung des Leitfadens wäre reine Symbolpolitik, die exakt nichts
ändert, sondern bloß externe Sternchenfanatiker auf Abstand halten
(„aber, sieh, wir haben doch den tollen™ Leitfaden angenommen“) soll.
2. Der Inhalt des Leitfadens
Die Prämisse des Leitfadens kann man teilen oder auch nicht, bewiesen
ist da nämlich nix. Und gerade der Kronzeuge Anatol Stefanowitsch
(Videolink in der Einleitung des Leitfadens) wird wohl aus gutem Grund
nicht namentlich erwähnt, seine Theorien zum Thema sind nämlich
hinlänglich umstritten.
Auch das Schlagwort „Stolpern, aber nicht stürzen“ zeigt, daß jenseits
der Verbreitung von Information (also geschriebenen Texten) noch eine
Metaebene bedient werden soll, nämlich die Indoktrination des Lesers. Ob
ein in der Regel inhaltsfremdes Erschweren des Leseflusses von
solchermaßen zwangsbeglückten Personen goutiert wird, ist doch eher
zweifelhaft.
Die alsodann dort erläuterte „Strategie“ läßt sich kurz zusammenfassen
als „wir wollen keine Auseinandersetzung mit fanatischen
Sternchenkriegern, also geben wir ihnen etwas Futter“.
Es ist also im Endeffekt dasselbe Argument, daß auch oben im Antrag
steht — reine Symbolpolitik, ohne wirkliches Interesse am Problem und
ohne Einfluß auf das eigentliche Ziel.
So, wie die herkömmlichen Profischwafler anbiedernd „Bürgerinnen und
Bürger“ formulieren — zwei Gruppen und Frauen dabei vorne — und doch im
Endeffekt an Gleichberechtigung kein Interesse haben.
3. Die in (1) und (2) fehlende Auseinandersetzung mit dem vorgeblich
durch sie gelösten Problemfeld und der (Nicht-)Lösung selbst.
Denn welches Problem soll eigentlich gelöst werden?
Gleichberechtigung aller(!) Menschen erreiche ich nicht durch
Zerschlagung von Sprache, sondern durch Bildung, durch Vorbilder, durch
Handeln, durch Gesetzgebung und deren Anwendung und Durchsetzung.
Insbesonders erreiche dieses Ziel nicht, wenn ich eine Gruppe von
Menschen zwanghaft auf Kosten aller anderen in jeden geschriebenen Satz
zwinge — denn die (falsche!) Grundannahme einer rein männlichen
deutschen Sprache zur Beförderung einer Überallnennung weiblicher Formen
führt im Endeffekt zur Unterdrückung aller nicht-binären Menschen, für
die nach diesem Konzept nicht einmal mehr Wörter vorhanden sind!
(Ein solches Ausblenden von Menschengruppen durch
Nichtmehrbenennenkönnen ist im Grunde zutiefst faschistisch.)
Lustigerweise™ ist den Verfechtern des Konzeptes der rein männlichen
deutschen Sprache aber aufgefallen, daß die Doppelnennungen wirklich
unhandlich sind — was also tun? Gesichtswahrend mußten also eine neue
Form der Benennung aller Mitglieder einer Gruppe her: Gendersternchen
und Co. entstanden. Nur waren jetzt die Nichtbinären wieder die Opfer,
also waren sie auf einmal „mitgemeint“. Also genau dieses „mitgemeint“,
welches den ursprünglichen Sprachformen ja gar niemals zugebilligt wurde.
Stand also: selbes Problem wie früher, aber Sprache kaputt.
Weil eine Teilgruppe ihre Weltsicht in der Sprache durchdrücken will,
anstatt echte gesellschaftliche Änderungen herbeizuführen.
Und für nichtbinäre Menschen ist Situation mnoch schlimmer geworden, da
das ursprünglich generische Wort plötzlich nur noch männlich sein soll,
und die tollen neuen Formen als weiblich induziert verstanden werden.
Damit zur Sprache selbst: „Genus ist nicht Sexus“.
Oder anders: Das grammatikalische Geschlecht eines Wortes (Genus) hat in
aller Regel nichts mit dem Geschlecht einer eventuell dadurch
bezeichneten Person (Sexus) zu tun!
(Wer ein paar Minuten Zeit hat:
<http://www.belleslettres.eu/artikel/genus-gendersprech.php>
Und danach dann:
<https://evidentist.wordpress.com/2016/03/28/feministen-rettet-das-generische-maskulinum/>)
Deutsch hat drei grammatikalische Geschlechter, die aus historischen
Gründen „männlich/weiblich/neutral“ heißen, aber Französisch
beispielsweise nur zwei („männlich/weiblich“) — also gibt es auch im
Französischen keine (im allgemeinen ja sexuslosen) Dinge mehr?
Sind alle Personen Frauen, weil es „die Person“ heißt?
Sind alle Ziege weiblich?
Können sich Ponies gar nicht fortpflanzen, weil sie geschlechtlos sind?
Sind mehrere Menschen immer Frauen, weil alle Mehrzahlen im Deutschen
den Artikel „die“ nutzen?
Die Zuordnungen eines Genus zu einem Wort ist auch keine zwingende:
Im Deutschen heißt es „der Mond/die Sonne“, im Französischen „die
Mond/der Sonne“ (la lune/le soleil); im Norden eher „die Cola“, im Süden
„das Cola“; Anfang des 20. Jahrhunderts sogar „die Dschungel“.
So gesehen also alles nur ein Mißverständnis,
also Gendersternchen beerdigen und weiter wie früher?
Nein.
Wir /haben/ eine diskriminierende Gesellschaft, in vielerlei Hinsicht.
Das müssen wir ändern. Aber nicht durch neue Privilegien für
Teilgruppen, sondern durch Schleifen der alten Privilegien!
Uns stattdessen unser Kommunikationsmittel, die Sprache, zu zerstören,
hilft nur denjenigen, die wegen Nichtkommunikation der Gegner stark
bleiben (wollen) — „devide et impera“.
Das Prinzip, nach welchem hier vorgegangen wird, mag ja von manchen als
„kleine Schritte in die richtige Richtung“ wahrgenommen werden, sind es
aber nicht. Es ist eher ein Versuch der Einhegung von Widersprüchen, der
uns überall begegnet:
- anstelle der Abschaffung geschlechtsspezifischer Diskrinierung
erweitert man die Nichtdiskrinierung auf andere Teilgruppen
- anstelle der Schaffung eines laizistischen Staates und der Abschaffung
kirchlicher Privilegien diskutiert man die Anerkennung weiterer Gruppen
- zur Reformierung der EU wird jetzt über gemeinsames Militär
diskutiert, anstelle einer Demokratisierung
- usw. usf.
Zielführend ist das alles nicht, hält uns aber beschäftigt. 9_9
Karsten
--
Freiheit stirbt | Fsayannes SF&F-Bibliothek:
Mit Sicherheit | http://fsayanne.tprac.de/
- [Ennepe-Ruhr] Antrag an die Kreismitgliederversammlung: Übernahme des "Leitfaden für eine gendergerechte Sprache" von digitalCourage e.V., Stefan Borggraefe, 06.07.2016
- Re: [Ennepe-Ruhr] Antrag an die Kreismitgliederversammlung: Übernahme des "Leitfaden für eine gendergerechte Sprache" von digitalCourage e.V., Stefan Borggraefe, 06.07.2016
- Re: [Ennepe-Ruhr] Antrag an die Kreismitgliederversammlung: Übernahme des "Leitfaden für eine gendergerechte Sprache" von digitalCourage e.V., Karsten Düsterloh, 09.07.2016
- Re: [Ennepe-Ruhr] Antrag an die Kreismitgliederversammlung: Übernahme des "Leitfaden für eine gendergerechte Sprache" von digitalCourage e.V., Karsten Düsterloh, 10.07.2016
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