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ag-gesundheitswesen - Re: [AG-Gesundheit] System-Vergleich

ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: AG Gesundheit

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Re: [AG-Gesundheit] System-Vergleich


Chronologisch Thread 
  • From: Wolfgang Gerstenhöfer <wolfgang.gerstenhoefer AT gmx.de>
  • To: "AG Gesundheit" <ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: Re: [AG-Gesundheit] System-Vergleich
  • Date: Fri, 21 Sep 2012 19:51:20 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>

Ahoi Thomas,

eine Antwort zwar mit sehr großer Verspätung, aber ich möchte sie mit der Bitte um Nachsicht doch noch
in die Runde schicken:

Deine Kritik am bestehen System kann ich sehr gut nachvollziehen.

Leider lebst auch Du - wie sehr viele Menschen - in dem Irrglauben, daß wir
in Deutschland im Gesundheitswesen marktwirtschaftliche Verhältnisse hätten.

Letztendlich ist das natürlich eine Frage der Nominaldefinition: Was
versteht wer unter Marktwirtschaft?

Man mag Gesundheit nicht gern auf den gleichen Nenner mit anderen Waren und
Dienstleistungen bringen. Das kann ich gut verstehen.

Dann stellt sich nur konsequenterweise die Frage, wo fängt das an und wo
hört das auf. Denn dann müßte man eigentlich alle Sach- und
Dienstleistungen, die der Befriedigung der Grundbedürfnisse dienen,
besonders behandeln.

Ist das aber wirklich eine sinnvolle Lösung? Haben wir die Systeme der DDR
und der anderen Ostblockstaaten schon vergessen?

Ich unterstelle den meisten Menschen, die sich für dieses System vor 1945
politisch engagiert haben, zunächst durchaus einen guten Willen. Gut gemeint
ist aber eben noch lange nicht gut gemacht.

Nehmen wir das Beispiel Krankenhaus. Wenn ich ein Krankenhaus so führe, daß
ich alle entstehenden Kosten auf die Patienten und deren Krankenkassen
und -versicherern umlegen kann, besteht kein Interesse, wirtschaftlich zu
arbeiten. Das ist unbezahlbar.

Das kann nicht die Lösung sein.

Es kann auch nicht die Lösung sein, daß zu Lasten der medizinischen und
pflegerischen Qualität und damit zu Lasten der Patienten, aber auch der
Mitarbeiter Einsparungen vorgenommen werden.

Deshalb plädiere ich für die Marktwirtschaft.

Wie sieht das anhand des konkreten Beispiels aus?

Krankenhäuser werden privatisiert. Ein Spitzenverband der Krankenhäuser oder
auch einzelne Krankenhäuser vereinbaren regelmäßig mit dem Spitzenverband
der Krankenversicherungsträger oder auch mit einzelnen
Krankenversicherungsträgern (unter Beteiligung von Patienten- bzw.
Versichertenvertretern) Preise für bestimmte Leistungen (Fallpauschalen,
Pflegesätze ...).

Parallel legt eine Fachaufsichtsbehörde mit Hilfe eines Gremiums, in dem die
verschiedenen Gruppen von Erbringern medizinischer Leistungen einerseits und
die Krankenversicherungsträger einschließlich Patienten- bzw.
Versichertenvertreter andererseits vertreten sind, und mit Unterstützung
durch ein bzw. das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen fest, welche Standards für Untersuchungen, Behandlungen und
die Pflege gelten - das schließt Arbeitszeiten mit ein. Dabei befürworte
ich, daß man nach und nach in Richtung Leitlinienmedizin geht.
Selbstverständlich muß diese Behörde auch in die Lage versetzt werden, das
Einhalten der "Spielregeln" vor Ort zu prüfen und regelmäßig Berichte zu
veröffentlichen.

Dadurch bekommt man eine ansatzweise marktwirtschaftliche Preisbildung
(Angebot und Nachfrage), die aber den Besonderheiten dieser "Branche"
Rechnung trägt. Ein Patient hat vor allem im akuten Krankheitsfall keine
Chance, Preis- und Qualitätsvergleiche vorzunehmen und sich für ein
Krankenhaus zu entscheiden. Er ist auf seinen Arzt und/oder seinen
Krankenversicherungsträger angewiesen.

Gleichzeitig kann der Krankenhausbetreiber nicht zu Lasten der Patienten
Gewinne machen. Er muß Standards einhalten. Wirtschaftlich arbeiten kann und
soll er in den Bereichen, die nicht unmittelbar zum Kerngeschäft des
Krankenhauses gehören.

Grundsätzlich gilt das durchaus auch für den ambulanten Bereich.

Wenn ich bereit und/oder in der Lage bin, für die gleichen Leistungen einen
höheren Preis zu bezahlen (= Privatpatienten), kann ich auch mehr erwarten.
Nicht in der Qualität der medizinischen Versorgung - deshalb Standards und
Leitlinien -, sondern im Komfort, auch bei Terminvergabe und Wartezeit.

Ungerecht an unserem System ist nur, daß nicht jeder das Recht hat, sich
privat zu versichern, sondern dies von der Höhe des Einkommens abhängig ist.

Warum soll nicht auch jemand, dessen Einkommen unter der
Versicherungspflichtgrenze liegt, die Möglichkeit bekommen, sich privat zu
versichern, wenn er sich das leisten kann und will?

Wobei ich weder für eine (komplette und schrankenlose) Privatisierung des
Gesundheits- bzw. des Krankenversicherungssystems noch für eine
Verstaatlichung - analog Bürgerversicherung und so - bin und auch nicht für die
Systeme der Schweiz oder der Niederlanden.

Mir geht es auch um eine radikale, also an den Wurzeln anpackenden Reform,
die positive Elemente der privaten und gesetzlichen Krankenversicherung
miteinander vereint. Nach meiner festen Überzeugung ist das möglich.

Deshalb sollten die Piraten meiner Meinung nach für eine Gesundheitsreform
eintreten, die zu einer generationengerechten, möglichst zukunftssicheren
und bezahlbaren Krankenversicherung führt, die größtmögliche Wahlfreiheit
mit der medizinisch notwendigen Vorsorge, Untersuchung und Behandlung
verbindet und zu angemessenen Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen führt.

Das ist der Inhalt meines bekannten Konzepts/Threads.

Freundlich-piratige Grüße und ein schönes Wochenende
Wolfgang

http://wiki.piratenpartei.de/Benutzer:Wolfgang_Gerstenh%C3%B6fer



----- Original Message ----- From: Thomas Weijers
To: AG Gesundheit
Sent: Monday, March 12, 2012 6:07 PM
Subject: Re: [AG-Gesundheit] System-Vergleich


Moin,


einig sind sich hier ja zum Glück Alle, dass es in dieser Form nicht mehr
weiter gehen kann. Aber wie weiter?


Mehr Staat oder mehr Marktwirtschaft war hier schon die Frage..


Wenn ich meinen beruflichen Alltag sehe, ist die Marktwirtschaft schon mit
weitreichenden Folgen in die Krankenhäuser eingezogen. Gesundheit im
Krankenhaussystem ist eine Ware, bzw. Dienstleistung deren Qualität in
einigen Punkten vom Versicherungsverhältnis abhängt. Wobei die
Qualitätsunterschiede in der handwerklichen Leistung an Schulnoten gemessen
zwischen einer 2- zu 1+ liegen.


In der Arztpraxis also im ärztlich ambulanten Sektor, ist dies nicht viel
anders sondern in Teilen viel zugespitzter. Meine Wartezeit hängt
unmittelbar von der Form meiner Versicherung ab, die Zeit des Arztes für
meine Untersuchung und damit die Qualität der Diagnose ebenso.


Der Pflegesektor also die Altenheime, als einziger Arzt freier Raum in
dieser Aufzählung ist nun noch ein anderes Steckenpferd, dass aber ja auch
anders finanziert wird.


Möchte ich im Krankenhaus noch mehr Marktwirtschaft erleben? Nein. Wir
arbeiten jetzt bereits an vielen Stellen am menschlichen Minimum und
erfüllen zu mindestens in der Pflege nicht die Anforderungen die Pflege sich
selbst gesteckt hat.


Ein Staatssystem als Grundlage der Versorgung und Verwirklichung der
Gleichheit der Menschen im Gesundheitssektor würde ich mir wünschen. Die
Versorgung fängt nun einmal bereits im ambulanten Sektor an und hier ist der
Klassenunterschied zwischen Privat oder Kasse erheblich. Für den Bereich
Krankenhaus, lasse ich mir eine aufbauende aber nicht ersetzende
Privatversicherung noch gefallen.


Mehr Marktwirtschaft verträgt das moralische Grundverständnis der Pflegenden
und wohl auch der Ärzte in den Krankenhäusern nicht mehr. Auf einer
Intensivstation ist mein Patient heute schon nur noch die Summe der Punkte
wert, die ich pro Tag für die erbrachten Leistungen verschlüsseln konnte.
Hier kann ich aber im Sinne des wirtschaftlichen Profits des Hauses immer
noch eine große Leistung abrufen. Auf einer peripheren Station muss der
Patient möglichst schnell verlegt werden, auch wenn ich nicht alle
Therapiemöglichkeiten ausnutzen konnte oder durfte. (Ist hier stark
zusammengerafft und überspitzt).


Bei mehr Marktwirtschaft muss man sich dann tatsächlich die Frage stellen,
welche Leistung wollen wir noch erbringen. Diese Frage stellen sich meine
Kolleginnen und Kollegen öfter. Auch im Rahmen meiner Studienarbeit wird sie
immer wieder gestellt.


Sie wird aber anders angegangen als bisher hier diskutiert.


Jeder Mensch hat immer seine Behandlung verdient, als Raucher ebenso wie als
Extremsportler. Jeder hat eine erste und zweite Chance verdient.


Aber hat der Raucher der nun seinen vierten Herzinfarkt innerhalb von zwei
Jahren geschossen hat, immer noch das Recht auf die volle Behandlung wenn er
das Rauchen nicht hat sein lassen?


Darf der Lungenkranke (COPD etc.) nach dem dritten Therapieversuch immer
noch alle Leistungen von der Gemeinschaft verlangen, wenn er nicht aufgehört
hat zu rauchen?


.....Lässt sich jetzt weiterführen, ich lasse es aber.


Aus der Sicht vieler Pflegekräfte und auch Ärzte in der Akut- und
Intensivmedizin, ist das fraglich. Auch ich habe bei einigen "Stammkunden"
diese Gedanken.


Der Grundgedanke einer Bürgerversicherung in die Alle einzahlen inklusive
des Beamtentums, mit einem streng zu definierenden Leistungskatalog der
Grund- und Regelversorgung ist Basis eines staatlichen Systems das ich mir
vorstelle. Privatversicherungen nur noch als Bonus, sowie die bisherigen
Zusatzversicherungen.


Gruß


Thomas/mcweijers




  • Re: [AG-Gesundheit] System-Vergleich, Wolfgang Gerstenhöfer, 21.09.2012

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