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ag-gesundheitswesen - [AG-Gesundheit] "First Contact" für Physiotherapeuten

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Betreff: AG Gesundheit

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[AG-Gesundheit] "First Contact" für Physiotherapeuten


Chronologisch Thread 
  • From: Tjörn Dohn <eli AT boronk.de>
  • To: ag-gesundheitswesen AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: [AG-Gesundheit] "First Contact" für Physiotherapeuten
  • Date: Wed, 06 Apr 2011 12:24:39 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-gesundheitswesen>
  • List-id: AG Gesundheit <ag-gesundheitswesen.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Newsserver der Piratenpartei Deutschland - Infos siehe: http://wiki.piratenpartei.de/Syncom/Newsserver

Hi,

Ich möchte auch mal eine Idee in den Ring schmeißen, die zumindest unter Physiotherapeuten schon lange angestrebt wird, ein paar Ausblicke in Richtung internationaler Situation geben und versuchen, das Thema auch vom Aspekt der ganzen Finanzierungssituation her zu beleuchten.
Analog ließe sich das evtl. auch für andere "medizinische Hilfsberufe" wie Logopäden und Ergotherapeuten betrachten.

Es geht um "First Contact" Patienten, die also zum Beispiel bei Schulterschmerzen direkt zum Physiotherapeuten gehen, welcher die Behandlung direkt mit der Kasse abrechnet - ohne den Umweg von Arzt und Verordnung (gerade bei kleineren Zipperlein eine große Hürde die dazu führt, dass Patienten erst sehr spät, teilweise erst kurz vor dem chronischen Stadium bei uns auflaufen).



Die aktuelle rechtliche Situation sieht so aus: Physiotherapeuten gelten wie bereits erwähnt als "medizinischer Hilfsberuf", d.h. es ist ihnen quasi verboten, ohne ärztliche Verordnung zu behandeln. Zumindest können sie diese Behandlungen nicht mit der Kasse abrechnen.
Einige Physiotherapeuten behandeln schon seit Jahren auch ohne Rezept (zum Beispiel weiterführende Termine nach dem Rezept, wenn die 6-10 Termine einfach nicht gereicht haben), das allerdings "mit einem Bein im Knast", da es dafür bisher keine rechtliche Regelung gab.

Inzwischen ist durch ein Gerichtsurteil (in Bayern, wenn ich mich nicht irre) ein Präzedenzfall geschaffen worden, der dafür sorgt, dass die Gesundheitsämter gestatten müssen, dass Physiotherapeuten einen "partiellen Heilpraktiker" erwerben, um für diese Behandlungen ohne Rezept zumindest irgendeine Rechtsgrundlage zu bekommen. Berufspolitisch ist dieser recht pragmatische Ansatz überwiegend positiv aufgenommen worden.

Für mich persönlich ist das allerdings höchstens eine Übergangslösung: Physiotherapie hat wenig bis gar nichts "alternativen" Heilmethoden zu tun - und ich fürchte, dass die Bezeichnung "Physiotherapeut HP" den ganzen Berufszweig in die "Scharlatanerie-Ecke" stellen könnte. Darüberhinaus ist es (aus meiner Sicht) zwar durchaus zu begrüßen, dass Physiotherapeuten die Qualität ihrer Arbeit "zu schätzen" lernen, auch, indem sie ihr ein Preisschild anhängen. Insgesamt sehe ich den Berufszweig aber eben doch als in das "schulmedizinische" System Arzt-Krankenkasse-Physio/Ergo/Logo gehörend.


Etwas weiter gefasst lässt sich für die gesamte Berufsgruppe übrigens feststellen, dass Physiotherapeuten vor allem in der Ausbildung weit im internationalen und auch europäischen Vergleich hinterherhinken. In fast allen europäischen Ländern ist Physiotherapie inzwischen ein grundständiges Studium (da gibt es einen ersten Modellversuch in NRW), hier in Deutschland max. ein ausbildungs- oder berufsbegleitendes Fernstudium, dessen Erwerb zudem so gut wie keine Vorteile bietet. Finanziell ist man mit Studium lediglich im öffentlichen Dienst (Krankenhaus) ein wenig besser gestellt. "Mehr machen" darf man deshalb aber auch nicht.


Blickt man nach Übersee, sind die Physiotherapeuten in D beinah abgehängt: In Australien beispielsweise existieren Physios gleichberechtigt neben Ärzten (Physiotherapie ist ein vergleichbares Studium), sehen ihre Patienten direkt, können sie krankschreiben, überweisen und Untersuchungen (Röntgen, MRT) anordnen.



Die wesentlichen Berufsverbände (allen voran der ZVK) streben unisono (was selten ist) eine weitergehende Akademisierung des Berufes an - ebenso wie die Einrichtung des First Contact für Physiotherapeuten. Das aktuell angestrebte System sieht folgendermaßen aus: Physiotherapeuten mit mind. 5 Jahren Berufserfahrung sollen sich nach entsprechender Fortbildung und evtl. einer weiteren abgelegten Prüfung die Berechtigung erwerben, First Contact Patienten zu behandeln (welche dann idealerweise auch über die Krankenkasse abgerechnet werden sollte).

Insgesamt wird das Ganze jedoch gerade in der Politik nur wenig beachtet - und die Berufsverbände können weder finanziell noch personell gegen die entsprechenden Vertreter von Ärzten, Pharmaindustrie und Apothekern "anstinken" - was man auch in der Umverteilung der Gelder in den letzten Jahren (Budgetierung von physiotherapeutischen Behandlungen, etc.) sehen kann.

Insofern ist das imho durchaus ein Thema, in das sich die Piraten gewinnbringend einbringen können.



Betrachtet man das Problem in Hinblick auf den drohenden Ärztemangel, gerade auf dem Land, bekommt das Projekt eine sehr konkrete Dimension: Wenn nämlich alle Arthrosen, Rückenschmerzen, chronische Verspannungen, Tennisellenbogen und unkomplizierten Bandscheibenvorfälle nicht mehr die Wartezimmer der Ärzte verstopfen, haben diese plötzlich mehr Zeit, sich um die ganzen anderen Patientne zu kümmern - der Ärztemangel könnte zu einem erheblichen Teil abgemildert werden, da orthopädische Erkrankungen ja gerade in einer überalternden Gesellschaft dazu tendieren, zuzunehmen...

Volkswirtschaftlich ist es imho auch nicht verkehrt, "heimische" Facharbeiter zu stärken. Aus persönlicher Erfahrung kann ich sagen: In dieser Branche liegt noch ganz viel Fachwissen und Know How brach, dass wir eigentlich dringend bräuchten, um die medizinische Versorgung auf dem aktuellen Stand aufrecht erhalten zu können (und vielleicht sogar ein stückweit zu verbessern).



Wie denkt ihr über dieses Thema?

Gibt's noch Fragen? Anregungen?

Grüße,
Tjörn




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