ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik
Listenarchiv
- From: moneymind <moneymind AT gmx.de>
- To: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
- Subject: Re: [AG-GOuFP] bemerkenswerte Einsichten von Schulmi
- Date: Sat, 21 Jun 2014 20:56:22 +0000
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
- List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>
Schulmeister interpretiert den New Deal aus der Sicht seines "lange Zyklen-Modells" und kommt zu folgenden (wie ich finde) bemerkenswerten Schlüssen:
/
"Die Entwicklung der Endnachfragekomponenten zwischen 1933 und 1937 zeigt eindeutig, dass der Anstieg des realen BIP um 43% nicht primär auf die Ausweitung der Staatsnachfrage zurückzuführen ist, sie wuchs merklich langsamer als die Gesamtnachfrage (lediglich im ersten Aufschwungsjahr – 1934 – wurde sie überdurchschnittlich stark ausgeweitet und gab so der Erholung eine „Initialzündung“). Auch hat Roosevelt keine Politik eines „deficit spending“ betrieben, das Staatsdefizit blieb bis 1936 nahezu konstant und drehte sich 1937 sogar in einen Überschuss (ohne Invest itionen – Abbildung 7).
Die Hauptursachen für die Erholung bestanden in Roosevelt’s Kampf gegen die sozialpsychologische Depression, also im „Drehen“ der Grundstimmung von Hoffnungslosigkeit in Zuversicht, in der Bekämpfung der (Jugend)Arbeitslosigkeit und insbesondere in einer solchen Änderung der ökonomischen „Spielanordnung“, durch die unternehmerische Tätigkeiten gefördert und Finanzspekulation eingeschränkt wurden. Die Bedeutung dieser drei, sich wechselseitig verstärkenden Faktoren, kommt in der enormen Zunahme der realen Investitionen von Unternehmen und Haushalten zum Ausdruck (+140% - Abbildung 4).
Beide Aspekte werden in den ökonomischen Analysen des New Deal, die in den vergangenen Jahrzehnten publiziert wurden, ignoriert, und zwar auch in jenen, welche der Politik Roosevelt’s positive Auswirkungen „zugestanden“ (für die Analysen von „Mainstream- Ökonomen“ war der New Deal natürlich schädlich – ein erster Überblick über einen Teil der jüngeren Literatur findet sich in Belabed, 2011).
Im Hinblick auf die von Keynes 1936 publizierte „General Theory“ und ihre Rezeption in der Wirtschaftswissenschaft und der Politik lässt sich Folgendes feststellen. Die Politik Roosevelt’s konzentrierte sich auf jene beiden Hautbotschaften von Keynes, die von der „scientific community“ weitgehend verdrängt wurden: Erstens, die Bedeutung von (Un)Sicherheit und der damit verbundene Einfluss der Emotionen auf der individuellen Ebene („animal spirits“) wie auf der gesellschaftlichen Ebene („state of confidence“). Zweitens, die Notwendigkeit, den Spielraum für Finanzspekulation radikal einzuschränken („euthanasia of the rentiers“) und damit dem „steady stream of enterprise“ auf allen Ebenen Vorrang einzuräumen gegenüber dem „steady stream of speculation“. Umgekehrt lehnte Roosevelt jene Empfehlung von Keynes ab, welche von der „scientific community“ als seine Hauptbotschaft (fehl)interpretiert wurde, die Notwendigkeit einer antizyklischen Fiskalpolitik, insbesondere eines „deficit spending“. Keynes machte in seiner „General Theory“ nicht explizit, welche theoretischen Einsichten und wirtschaftspolitischen Empfehlungen ihm am wichtigsten erschienen. Dementsprechend vielfältig sind die Interpretationen, „what Keynes really meant“.
In meiner Lesart waren für ihn die systematische Verringerung der (vermeidbaren) Unsicherheit, (damit) die nachhaltige Festigung des „state of confidence) und (daher) die Bekämpfung aller Arten von Finanzspekulation die wichtigsten Voraussetzungen für eine Stabilisierung des Kapitalismus. Als Zwischenschritte auf dem Weg zur „euthanasia of the rentiers“, schlug Keynes daher eine Transaktionssteuer zur Eindämmung der Aktienspekulation vor, ein neues Weltwährungssystem zur Eliminierung der Währungs- und Rohstoffspekulation und eine Stabilisierung der Zinssätze auf niedrigem Niveau zur Einschränkung von Anleihespekulation.
Ich würde sogar vermuten, dass Keynes zwar die Selbstverpflichtung der Regierungen zu einer antizyklischen Geld- und Fiskalpolitik als wesentliche Komponente einer Stabilisierung des „state of confidence“ ansah, doch würde al lein das Vertrauen der Unternehmer in eine solche Politik die Schwankungen von Investitionen und Beschäftigung so stark dämpfen, dass eine markant antizyklische Politik gar nicht nötig sein werde - sofern die Finanzmärkte ruhig gestellt sind. Denn für Keynes bildeten die Instabilität freier Finanzmärkte und die dadurch produzierten Schwankungen des „market sentiment“ die wichtigste Ursache für Konjunkturschwankungen und schwere Wirtschaftskrisen.
Die Nachkriegsgeschichte bestätigt diese Sichtweise: In den 1950er und 1960er Jahren gab es – bei regulierten Finanzmärkten – keine nennenswerten Konjunkturschwankungen und damit auch keine Notwendigkeit einer antizyklischen Politik. Umgekehrt wurden alle Rezessionen seither durch Turbulenzen auf den Finanzmärkten ausgelöst – von den Dollarabwertungen und „Ölpreisschocks“ der 1970er Jahre bis zu den Aktiencrashs 2000/2003 und 2008/2009.
Gleichzeitig verliert unter „finanzkapitalistischen“ Rahmenbedingungen eine antizyklische Politik immer stärker an Wirkung, ja sie kann sogar „kontraproduktive“ Effekte haben. So stimuliert die Niedrigzinspolitik der letzten Jahre die Finanzspekulation, insbesondere mit Aktien, und nicht die Realinvestitionen (Abbildung 9). Roosevelt richtete seine Politik klar nach folgenden Hauptzielen aus: „Zuversicht und Vertrauen Schaffen“, „Arbeitslosigkeit mit aller Kraft Bekämpfen“ und „Finanzsektor der Realwirtschaft Unterordnen“. Damit folgte er den wichtigsten Empfehlungen der „General Theory“ von Keynes schon vor ihrem Erscheinen in höherem Maß als jeder andere Politiker danach. "/
Der Fokus und das Erfolgsrezept des New Deal lag also weniger auf einer "Politik leichten Geldes" oder "erhöhter Staatsnachfrage", sondern Schulmeister zufolge auf a) der Psychologie (Zuversicht, positive Zukunftserwartungen generell schaffen - beflügelt die Investitions-/Konsumneigung) und b) der Finanzmarktregulierung und der Lenkung der Kreditvergabe auf die Realwirtschaft.
a) scheint mir bisher enorm vernachlässigt. Denn für eine Lösung der Krise Europas käme einer klar ausgearbeiteten, positiven Strategie auch sofort eine psychologische Funktion zu, sie würde ggf. "confidence" schaffen. Klar müssen auch geld- und fiskalpolitische Mittel eingesetzt werden, und auch diese können auf den "state of confidence" wirken. Bei Roosevelt aber war es das konkrete, klar formulierte Konzept, das diese psychologische Wirkung erzielte.
Gruß
moneymind
- [AG-GOuFP] Von Roosevelt lernen: Sein "New Deal" und die große Krise Europas, moneymind, 19.06.2014
- Re: [AG-GOuFP] bemerkenswerte Einsichten von Schulmi, moneymind, 21.06.2014
Archiv bereitgestellt durch MHonArc 2.6.19.