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ag-geldordnung-und-finanzpolitik - [AG-GOuFP] Das NAIRU-Gespenst (war: Re: EZB mit negativem Eigenkapital? kein Problem)

ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik

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[AG-GOuFP] Das NAIRU-Gespenst (war: Re: EZB mit negativem Eigenkapital? kein Problem)


Chronologisch Thread 
  • From: Nicolai Hähnle <nhaehnle AT gmail.com>
  • To: Rudi <piratrudi AT gmx.de>
  • Cc: ag-geldordnung-und-finanzpolitik AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: [AG-GOuFP] Das NAIRU-Gespenst (war: Re: EZB mit negativem Eigenkapital? kein Problem)
  • Date: Tue, 23 Oct 2012 17:20:14 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-geldordnung-und-finanzpolitik>
  • List-id: Kommunikationsmedium der bundesweiten AG Geldordnung und Finanzpolitik <ag-geldordnung-und-finanzpolitik.lists.piratenpartei.de>

Hallo Rudi,

2012/10/22 Rudi <piratrudi AT gmx.de>:
> Am 22.10.2012 20:51, schrieb George:
>> Historisch ist bei (fast-) Vollbeschäftigung wie aktuell in Deutschland
>> die Inflation relativ hoch.
>
> Häh?
> Bitte wo haben wir in Deutschland (fast-) Vollbeschäftigung?

Wissen ist in solchen Diskussion oft der beste Impfstoff. Lass mich
deswegen kurz ausschweifen und erklären, warum bestimmte (und nicht
gerade wenige) Ökonomen immer wieder behaupten, wir wären nahe an der
Vollbeschäftigung.

Unter normalen Menschen kann man sich in der Regel recht schnell und
gut auf folgende Definition einigen: Vollbeschäftigung herrscht dann,
wenn jeder, der arbeiten möchte, auch leicht eine angemessene und
angemessen bezahlte Arbeit finden kann. [1]

Ökonomen sind keine normalen Menschen - zumindest nicht in dieser Hinsicht.

Ökonomen (zumindest diejenigen, von denen ich eingangs sprach)
definieren Vollbeschäftigung als "Arbeitslosigkeit = NAIRU". Die NAIRU
ist die Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment, eine
hypothetische Größe aus einer volkswirtschaftlichen Theorie, die ich
ganz kurz anschneiden will. (Wer's ausführlicher will möge Bill
Mitchell lesen: http://bilbo.economicoutlook.net/blog/?p=1502)

Wenn die Arbeitslosenquote niedrig ist, dann können Arbeitnehmer
leichter Lohnsteigerungen durchsetzen. Teilweise erhöht sich dadurch
die Lohnquote - also der Anteil der Einkommen, der für Arbeit
ausgezahlt wird - teilweise geben Unternehmen diese Lohnsteigerungen
aber auch über ihre Verkaufspreise weiter. Das spüren dann auch die
Arbeitnehmer am Konsumgüterpreisindex und wird mit in die nächste
Lohnrunde einfließen.

Von daher ist es sehr plausibel, dass es einen grob inversen
Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation gibt. Hohe
Arbeitslosigkeit und niedrige Inflation passen tendenziell zusammen,
und niedrige Arbeitslosigkeit und hohe Inflation passen tendenziell
zusammen.

Einige Ökonomen gehen jetzt aber noch weiter und sagen, dass die
Preiserhöhungen der Unternehmen und/oder die Lohnforderungen der
Arbeitnehmer auch dadurch bestimmt werden, in welcher Höhe
_zukünftige_ Inflation erwartet wird. Sie stellen dann ad hoc
irgendwelche Formeln auf und postulieren, dass es eine bestimmte
Arbeitslosenquote gibt - nämlich gerade die NAIRU - bei der die
Inflationsrate wegen dieser Erwartungen konstant bleibt. Sinkt die
Arbeitslosenquote unter die NAIRU - so die Konsequenz der rein ad hoc
postulierten Formeln - dann steigt die Inflationsrate immer weiter an,
ohne obere Schranke. Steigt die Arbeitslosenquote über die NAIRU, so
sinkt die Inflationsrate.

_Wenn_ diese Theorie richtig _wäre_, dann wäre die Bestimmung der
NAIRU natürlich sehr wichtig, weil die Volkswirtschaft eine
Arbeitslosenquote unterhalb der NAIRU nicht sehr lange überleben
könnte.

Dummerweise hat diese Theorie massive Probleme:

1. Die aufgestellten Formeln sind vollkommen ad hoc, empirisch nicht
belegt, und werden von vielen Ökonomen kritisch betrachtet.

2. Selbst wenn der in den Formeln aufgezeigte Zusammenhang in einem
kleinen Wertebereich richtig wäre, ist doch die Schlussfolgerung, dass
es über den Mechanismus der Lohn-Preis-Spirale zur Hyperinflation
kommen könnte, vollkommen absurd. Hyperinflation ist nicht eine
besonders schnelle Inflation, sondern ein qualitativ anderes Phänomen.

3. Selbst wenn die Theorie richtig wäre und es eine NAIRU gäbe, so
wäre doch jede vorgebliche Messung der NAIRU eine reine
Kaffeesatzleserei. Typischerweise prognostizieren Ökonomen als NAIRU
immer die durchschnittliche Arbeitslosigkeit der letzten X Jahre minus
1%. Das ist ja auch klar: um die NAIRU wirklich messen zu können,
müsste man die Arbeitslosigkeit so weit senken, dass es tatsächlich zu
beschleunigender Inflation kommt. Dann erst wüsste man, wann die NAIRU
überschritten wurde. Dieses Experiment wurde seit dem Entstehen der
NAIRU-Theorie nirgendwo versucht. Deswegen sind alle existierenden
Schätzungen zur Höhe der NAIRU nicht das Papier wert, auf dem sie
gedruckt sind.

4. Die NAIRU-Theorie ist überhaupt kein Grund, das Ziel der
Vollbeschäftigung (im eigentlichen Sinne) aufzugeben. Stattdessen
müsste es das Ziel von Volkswirtschaftslehre mit sozialem
Selbstverständnis sein, nach Möglichkeiten zu suchen, um den
Wirkmechanismus auszuhebeln, der der NAIRU-Theorie zugrunde liegt.
Tatsächlich ist das ein Aspekt der von mir immer wieder ins Gespräch
gebrachten Jobgarantie: indem die Beschäftigten in der Jobgarantie
über einen politisch festgesetzten Lohn verfügen, kann der Preisdruck
nicht außer Kontrolle geraten, obwohl Vollbeschäftigung herrscht.

So viel zum konzeptuellen Hintergrund der Aussage von George. Es ist
das NAIRU-Gespenst, das da spukt. Aber erstens gibt es
höchstwahrscheinlich keine NAIRU, zweitens wird sie - wenn es sie doch
geben sollte - nicht korrekt gemessen, und drittens sollte selbst
dann, wenn alles, was von Leuten wie George implizit über die NAIRU
erzählt wird, wahr sein sollte (und eher glaube ich an die
String-Theorie!), so gibt es immer noch vernünftigere Mittel und Wege,
um die Vollbeschäftigung im eigentlichen Sinne als politisches Ziel zu
verfolgen.

Vollbeschäftigung muss heißen: jeder, der arbeiten möchte, kann auch
leicht eine angemessene und angemessen bezahlte Arbeit finden.

Schöne Grüße,
Nicolai


[1] Und wie immer steckt natürlich der Teufel im Detail. Was genau
bedeutet zum eine "angemessene" Arbeit? Was bedeutet "angemessen
bezahlt"? Aber Menschen, die einer Diskussion über solche Themen mit
guten Intentionen beitreten, werden über die wichtigsten Aspekte reden
können, ohne sich an Meinungsunterschieden zu diesen Details
aufzuhängen.
--
Lerne, wie die Welt wirklich ist,
aber vergiss niemals, wie sie sein sollte.




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