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Betreff: Koordinations und Arbeitsliste der AG Barrierefreiheit
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Re: [Ag-barrierefreiheit] [AG-Inklusion] Antrag Inklusion und nationale Identität
Chronologisch Thread
- From: "Stefan Kottas" <stefan.kottas AT piratenpartei-nrw.de>
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- Subject: Re: [Ag-barrierefreiheit] [AG-Inklusion] Antrag Inklusion und nationale Identität
- Date: Sat, 1 Dec 2012 02:20:44 +0100
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-barrierefreiheit>
- List-id: Koordinations und Arbeitsliste der AG Barrierefreiheit <ag-barrierefreiheit.lists.piratenpartei.de>
Hallo zusammen,
Ziel des Grundsatzprogrammantrages war es, das Prinzip der gesamtgesellschaftlichen Inklusion (http://de.wikipedia.org/wiki/Inklusion_%28Soziologie%29) mit den Aspekten Teilhabe, Chancengleichheit, Barrierefreiheit (im weiteren Sinne), Diskriminierungsfreiheit etc., welche größtenteils bereits Bestandteil der Bundes- und Landesprogramme sind, ohne jedoch das Wort „Inklusion“ zu verwenden, als Grundwert der PIRATEN in das Grundsatzprogramm aufzunehmen. Deshalb ist dieser Antrag weiter gefasst und allgemeiner gehalten, als die Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Es sollen jedoch weitere Grundsatz- und Wahlprogrammanträge folgen, welche auf speziellere Bedürfnisse einzelner diskriminierter Gruppen eingehen.
Im Nachhinein betrachtet muss ich zugeben, dass der eine Satz ungünstig formuliert ist, da er durch teilweises Zitieren eine andere Aussage wiedergibt, als der komplette Satz.
Denn der Satz "Globale Inklusion bedeutet Raum zu schaffen für Menschen jeglicher Herkunft mit dem Ziel, ihre gesellschaftlichen Eigenheiten und Mentalitäten, Sprache und nationalen Identitäten zu bewahren und zu pflegen." kann in keinster Weise deutsch-nationalistisch verstanden werden. Er spricht unter anderem den Menschen anderer Herkunft das Recht zu, ihr Empfinden, was sie sind, nicht ablegen zu müssen, wenn sie hier wohnen wollen. Jemand, der z.B. aus Indien kommt, soll hier ein indisches Geschäft, ein indisches Kulturzentrum, eine indische Sprachschule etc. errichten dürfen.
Warum ist das wichtig?
Die Identitätsentwicklung, Selbstfindung und Selbstgestaltung sind Prozesse, die über mehrere Jahre hinweg laufen. Ein Mensch mit Migrationshintergrund kann seine Identität nicht von heute auf morgen ändern. Wird dies dennoch erzwungen, kann dies zu psychischen Erkrankungen führen. Ich konnte beobachten, dass Depressionen bei Menschen mit Migrationshintergrund zumindest gefühlt häufiger vorkommen, als bei der durchschnittlichen Bevölkerung. In allen Fällen konnte ich ein vermindertes Selbstwertgefühl feststellen. Ein wesentlicher Faktor für das Selbstwertgefühl ist die Bestätigung durch andere (oder anders ausgedrückt, keine Diskriminierung durch andere). Neben der Hauptforderung unseres Antrags, jeden diskriminierungsfrei zu inkludieren, muss jedoch auch der Raum geschaffen werden, dass jeder, so lange er möchte, sein und bleiben kann wie er will.
An der Stelle war unser Antrag schon zu spezifisch. Denn diese Problematik betrifft viele, welche Diskriminierung, Mobbing, Ausgrenzung etc. ausgesetzt sind.
Mit piratigen Grüßen Stefan
Von: ag-inklusion-bounces AT lists.piratenpartei.de [mailto:ag-inklusion-bounces AT lists.piratenpartei.de] Im Auftrag von Andreas Balsa
Hallo, Beim BPT in Bochum letzte Woche kam es zu einem Abstimmungsdrama um PA048 Inklusion. Wir anwesenden Piraten hatten den Antrag zunächst in zwei Abstimmungsrunden für das Grundsatzprogramm angenommen, in einer dritten Abstimmung dann aber doch abgelehnt. Mein Eindruck war, dass wir alle den eigentlichen Inhalt des Antrags überwältigend befürworteten. Auslöser für die GO-Anträge zur Wiederholung der Abstimmung war die Formulierung am Ende von PA048, auch die „…nationalen Identitäten zu bewahren und zu pflegen“. Die Antragssteller konnten den Antrag später als Positionspapier verabschieden lassen, in dem sie ankündigten, den Begriff „national“ überall im Antrag durch „kulturell“ zu ersetzen.
Vermutlich war es nicht die beste Lösung, in einem Antrag so viele unterschiedlichen Gruppen zu inkludieren(!). Jetzt sind so zu sagen alle im Boot der „Nation“ zeitweise untergegangen. Für diejenigen mit kirchlichem Background: Es hat mich ein wenig an diese Fürbittgebete erinnert, in die der Vortragende auch meint, alles hinein packen zu müssen.
Für mich besonders spannend war aber, dass ich selbst, wie viele andere Piraten, nicht über den Begriff „nationale Identität“ gestolpert war. Und dass diese Wortwahl in 2012 noch solche Emotionen auslösen kann. Persönlich hätte ich gut damit leben können, den Text ins Grundsatzprogramm aufzunehmen und ggf. beim nächsten BPT noch einmal sprachlich zu optimieren. Aus dem ganzen Kontext des Antrags ist klar, dass niemand im leisesten daran dachte, nationalen Chauvinismus zu fördern.
Warum empfindet ein Teil der Piraten die Formulierung mit den „nationale Identitäten“ anstößig und warum bin ich persönlich der Ansicht, dass das erstaunlich altbacken ist?
Die Idee der Nation ist in Europa stark mit dem 19. Jahrhundert verknüpft. In seiner Ausprägung hin zum nationalen Chauvinismus hat er zu einer der großen Tragödien der Geschichte, dem 1. Weltkrieg geführt. Ich denke, viele Menschen haben nach 1914 gehofft, dass dieser Nationalismus sich ein für alle Mal diskreditiert hätte. Aber nur wenige Jahre später bauen wir Deutsche eine nationalistische Diktatur auf und führen unser Land, ganz Europa und Teile der restlichen Welt in die nächste, nochmals gesteigerte Katastrophe. Nachvollziehbar, dass zumindest in Deutschland der Begriff der Nation damit verbrannt sein sollte.
Wenn Ihr etwas genauer auf die nationalsozialistische Ideologie schaut, sieht die Sache ein wenig differenzierter aus. Grundlage dieser Ideologie war streng genommen ein dumpf rassistisches, völkisches Denken, dem sich die „Nation“ unterzuordnen hatte. Folgerichtig waren die ersten Opfer der Nazis der deutsche Staat, deutsche Arbeiter, deutsche Intellektuelle, deutsche Juden, deutsche Roma, deutsche Schwule, … Bevor sie Opfer wurden, haben sich viele dieser Menschen vermutlich ohne Probleme zu einer deutschen Identität bekannt.
Mein Schlüsselerlebnis war Mitte der 1980er als ich mehrere Monate in einem Kibbuz arbeitete, der im Wesentlichen von polnischen und deutschen Juden aufgebaut worden war. Die Jüngeren dort haben sich klar als Israelis definiert. Bei den Gesprächen mit den Älteren wurde mir sehr schnell klar, dass sie ihre Identität auch stark über ihre deutsche Herkunft definierten, z.B. wenn sie andere Kibbuze kritisierten, die sie als weniger gut organisiert wahrnahmen.
Später als ich längere Zeit in England gelebt habe, ist mir auch klar geworden, dass mich neben meiner Familie, meinen Freunden eben auch das Land, der Staat, in dem ich aufgewachsen bin geprägt haben. Wie sollte das auch anders sein? Wir leben ja nicht für 20, 30 Jahre in einem systemischen Regelwerk, ohne dass es Spuren in unserer Identität hinterlässt. Menschen aus Südeuropa und der Türkei, die seit längerem in Deutschland leben und arbeiten, erzählen häufig, dass sie bei Besuchen in ihrem ursprünglichen Heimatland, als „Deutsche“ tituliert werden, weil sie bestimmte Eigenheiten ihrer neuen Heimat übernommen haben.
Ganz nüchtern betrachtet ist der Staat, das Land, die Nation, in der wir aufwachsen oder längere Zeit leben, eines der Dinge, die unsere Identität prägen. Ob wir das jetzt explizit fördern sollten, weiß ich nicht. Wenn es aber jemand persönlich als wichtigen Teil seiner/ihrer Identität empfindet, sollten wir ihn/sie deshalb nicht ausgrenzen. So verstehe ich die Stoßrichtung des Inklusionsantrags an diesem Punkt.
Problematisch ist immer ein nationaler Chauvinismus. Dessen Förderung kann ich allerdings bei bösestem Willen nicht in den Inklusionsantrag hineininterpretieren.
Wenn ich mir Unterdrückung und das Morden, das momentan so in der Welt abgeht, anschaue, scheint mir, dass religiöser, ethnischer, ideologischer und ja, kultureller Chauvinismus dem nationalen Chauvinismus seinen Rang als Triebfeder von Gewalt streitig macht. Wenn wir jetzt also im Antrag „nationale Identität“ durch „kulturelle Identität“ ersetzen, zeigen wir vielleicht, wie toll wir Lehren aus dem 19. und 20. Jahrhundert in Europa gezogen haben – nur um in die globale Löwengrube des 21. Jahrhunderts zu stolpern.
Worte immer so perfekt zu wählen, dass solche Fallen vermieden werden, ist kaum möglich. Investieren wir die Zeit statt in Serien von GO-Anträgen und Wortklaubereien doch besser in die Umsetzung dessen, was wir inhaltlich im Antrag fordern.
Beste Grüße Andreas1964
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