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rlp-aw - [Rlp-aw] [INFO][DISK] “Im Namen des Volkes”

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Betreff: Rlp-aw mailing list

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[Rlp-aw] [INFO][DISK] “Im Namen des Volkes”


Chronologisch Thread 
  • From: "Dr. Gernot Reipen" <gernot.reipen AT online.de>
  • To: <rlp-aw AT lists.piratenpartei.de>, "Landesverband Rheinland-Pfalz" <rheinland-pfalz AT lists.piratenpartei.de>, "Informationen und Diskussionen des Koblenzer Stammtischs" <koblenz AT lists.piratenpartei.de>
  • Subject: [Rlp-aw] [INFO][DISK] “Im Namen des Volkes”
  • Date: Thu, 28 Jun 2012 16:44:25 +0200
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/rlp-aw>
  • List-id: <rlp-aw.lists.piratenpartei.de>



Ahoi Piraten,

Ich habe heute morgen an einer Gerichtsverhandlung teilgenommen. Die Anklageschrift lautete: “Aufruf zu einer nicht genehmigten Gegendemonstration über das Internet”

Was ich heute morgen erleben durfte, lässt mich stark an der Rechtssprechung in unserem Land zweifeln. Zumindest stellt sich für mich die Frage “Im Namen von welchem Volk” hier Recht gesprochen wird.

Doch der Reihe nach. Worum geht es?
Vorgeworfen wird dem Antifaschisten W.H., er habe im Vorfeld der Proteste gegen den Naziaufmarsch am 3. September 2011 in Dortmund auf seiner Internetseite einen Link zu einem der antifaschistischen Bündnisse in Dortmund gesetzt, das zu Blockaden aufgerufen habe. Der Antifaschist habe damit "vorsätzlich einem anderen zu dessen vorsätzlich begangener rechtswidriger Tat (öffentliche Aufforderung zu einer groben Störung einer nicht verbotenen Versammlung) Hilfe geleistet".

In der Anklageschrift wurde der Aufruf zur Gegendemonstration ungekürzt vorgelesen. Ich persönlich halte diesen Aufruf als vollkommen gerechtfertigt, mit einer Gegendemonstration, inkl. Sitzblockade, gegen den Naziaufmarsch in Dortmund zu protestieren. Der Transparenz geschuldet, gebe ich euch den Link zum Aufruf an dieser Stelle weiter: http://wolfgang-huste-ahrweiler.de/2011/08/25/der-antikriegstag-gehort-uns-dortmunderinnen-wollen-naziaufmarsch-blockieren/

Der Staatsanwalt warf dem Beschuldigten vor, mit diesem Aufruf zu einer rechtswidrigen Handlung aufgerufen zu haben, um eine genehmigte Demonstration (Aufmarsch) zu verhindern. Der Beschuldigte und die Verteidigung machten deutlich, dass es die Pflicht eines jeden demokratischen Bürgers ist, sich gegen Faschismus und Extremismus zu Wehr zu setzen.

Als erster wurde ein Polizist in den Zeugenstand gerufen, der im Kreis Ahrweiler beauftragt ist, das Umfeld der Neonaziszene zu beobachten. Dieser Polizist kannte Herrn W.H. von einer Veranstaltung der Antifa gegen das Aktionsbündnis Mittelrhein. Und jener besagte Polizist entdeckte aus rund 1000 Aufrufen, die zur gleichen Zeit im Internet zu einem Protestaufruf gegen den Aufmarsch der Neonazis in Dortmund aufriefen, jenen Blog von W.H.

Als Außenstehender fragt man sich, wie kommt ein Polizeibeamter, der ja eigentlich sich mit Rechtsextremismus beschäftigen soll, dazu, im Internet gezielt nach einem „Rechtsverstoß“ eines W.H. zu suchen. Sollte hier ein mündiger und kritischer Bürger im Vorfeld „Mund tot“ gemacht werden. W.H. ist Parteimitglied der Linken, Gewerkschaftsmitglied und in der Antifa-Bewegung des Kreises tätig und hat sich im politischen Spektrum von Bad Neuenahr/Ahrweiler einen Namen gemacht.
Hat der Zeuge im Auftrag einer höheren Stelle oder in eigener Verantwortung das Internet durchsucht? Diese Frage stellte die Verteidigung den Polizisten, der daraufhin eindeutig aussagte, im eigenen Interesse diese Internetsuche durchgeführt zu haben. Auf die Frage der Verteidigung, warum er eine solche Recherche für notwendig erachtet habe, kam folgende Begründung. Und bitte schön, die solltet ihr euch mal gut zu Gemüte führen.
Er habe diese Recherche durchgeführt, um eine Eskalation zu verhindern. Werden Aufmärsche und Demonstrationen der Neonazis durch Gegendemonstrationen linker und autonomer Gruppen verhindert oder gestört, führt dies zu vermehrten Straftaten der rechten Szene. Das war die Aussage eines Beamten, der die Bürger(innen) vor rechter Gewalt schützen soll.

Im weiteren Verlauf der Verhandlung wies die Verteidigung daraufhin, dass mehr als 1000 Internetaufrufe zur Gegendemonstration zeitgleich aufgerufen haben. Unter anderem auch der Oberbürgermeister der Stadt Dortmund. Ob denn die Staatsanwaltschaft jetzt auch ein Verfahren gegen den Oberbürgermeister und die anderen Internetuser einleiten werde? Auf diese Frage gab der Staatsanwalt keine Antwort, verwies aber daraufhin, dass es nicht seine Aufgabe wäre, ein Verfahren gegen den Oberbürgermeister der Stadt Dortmund aufzunehmen.

Gegen Ende der Verhandlung, ging ich davon aus, dass das Gericht den Angeklagten freisprechen werde, zumal im Aufruf zur Gegendemonstration von einer gewaltfreien und ohne auf Eskalation ausgerichteten Veranstaltung hingewiesen wurde.

Das Urteil lautete: „Schuldig gemäß Anklageschrift“ Und 20 Tagessätze zu 300 Euro!

Die Begründung des Gerichts: Im Text ist eindeutig die Rede von „Aufmarsch verhindern“ und „blockieren.“ Damit müsse man, als Verantwortlicher einer Internetseite, in Kauf nehmen, dass es zu gewalttätigen Ausschreitungen kommen könne.
Ich möchte an dieser Stelle kurz erwähnen, dass die Gegendemonstration friedlich verlief und dass auf Grund dieses Aufrufes, der Aufmarsch der Neonazis abgesagt wurde. Nur zum Verständnis.

Also, um es noch einmal deutlich zu machen! Es waren zwei Wörter „verhindern“ und „blockieren“, die für das Urteil ausschlaggebend gewesen waren.
Die Gerichtsverhandlung hat 2,5 Stunden gedauert und die Richterin hat etwa 15 Minuten zur Urteilsfindung gebraucht. Für mich eine totale Farce. Man hätte die Verhandlung auch in einer knappen Stunde abhalten können, da nach meiner Meinung, das Urteil schon vor Beginn der Sitzung feststand.

Aber was sagt dieses Urteil über unseren Rechtsstaat aus? Im Namen von welchem Volk wird hier Recht gesprochen. Im Namen des Deutschen Volkes? Das Urteil entsprach weder der meinigen Auffassung von Gerechtigkeit, noch das rechtliche Empfinden der Mehrzahl der Zuhörer im Gerichtssaal! Aber warum wurde hier, in der Provinz, ein solches Exempel statuiert. Wer kann Interesse daran haben, mutige, gewaltfreie, demokratische Bürger so abzustrafen?

Der Staatsanwalt verwies in seinem Schlussplädoyer daraufhin, dass der Justiz vorgeworfen würde, auf dem rechten Auge blind zu sein. Er beteuerte aber, dass dies im Kreis Bad Neuenahr/Ahrweiler nicht zuträfe.

Ist das wirklich so? Ich habe meine Zweifel. Und ich frage mich allen Ernstes, wie viel Demokratie wird uns dieser Rechtsstaat zubilligen. Wenn ein Volksentscheid demokratisch den Bau einer weiteren Startbahn in München mit deutlicher Mehrheit ablehnt und zwei Tage später von Interessensverbänden geäußert wird, dass solche Volksentscheide zeitlich begrenzt anzusehen seien, und dass in einem Jahr eine andere Meinung vorherrschen könne, dann sage ich mir, Demokratie (oder besser formuliert) demokratische Strukturen in Deutschland gelten nur solange es den Mächtigen passt und das gemeine Volk den Politikern, Lobbyisten und Strippenzieher nicht zu sehr in die Suppe spuckt. Und hier könnten dann irgendwann rechte Gesinnung den Strippenziehern, Lobbyisten und Politikern (Reihenfolge bewusst gewählt) nützlich sein. (Lehre aus der deutschen Geschichte).

Ich sage euch dies, da wir Piraten uns für Basisdemokratie und Transparenz einsetzen wollen. Solange wir uns dabei nur innerhalb unserer piratischen Tools bewegen, und hier unsere Meinungen hin und her äußern, droht uns von da oben keine Gefahr. Im Gegenteil, sie werden uns hätscheln und pflegen. Hat das politikverdrossene Volk endlich eine Spielwiese gefunden, wo es sich austoben lässt.

Jedenfalls wird W.H. in Berufung gehen und ich werde ihn dabei mit allen meinen demokratischen Mitteln unterstützen. Ich hoffe, dass ich nicht der einzige Pirat bleiben werde, der ihm seine Unterstützung anbieten wird. Wir müssen unsere demokratische Freiheit bewahren und erweitern. Und hier gilt es ein Schulterschluss zu schließen, mit allen (basis-)demokratischen Gruppen und Gruppierungen in unserem Land. Nur so haben wir die Chance, wirklich etwas zu verändern.

Gruß Gernot



  • [Rlp-aw] [INFO][DISK] “Im Namen des Volkes”, Dr. Gernot Reipen, 28.06.2012

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