ostwestfalen-lippe AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Regionale Liste für OWL (im Nordosten von NRW)
Listenarchiv
- From: "Andreas Rohrmann" <andreas AT rohrmann.com>
- To: Ostwestfalen-Lippe AT lists.piratenpartei.de
- Cc: Detmold AT lists.piratenpartei.de
- Subject: [OWL] Der schleichende Verfall...?
- Date: Sun, 30 Oct 2011 15:50:07 +0100
- Importance: Normal
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ostwestfalen-lippe>
- List-id: Regionale Liste für OWL (im Nordosten von NRW) <ostwestfalen-lippe.lists.piratenpartei.de>
Ahoi.
Vielleicht habt Ihr das auch aus Berlin aktuell gelesen:
*** Unterbindungsgewahrsam - ohne Verdacht und ohne Straftat in Haft ***
Dieses "Vorgehen" hat sich in den letzten Jahren in jedes Bundesland
"eingeschlichen"...
Auch in NRW gibt dies Gesetz, bei dem man ohne jede Tat einen Bürger in
Haft festsetzen kann...
Dazu einige Worte, zu denen man sich in Sachen Demokratie und Freiheit
einige Gedanken machen sollte
(http://www.youtube.com/watch?v=56-PAJ4H_Xc), wenn wir auch einen
parallelen Blick nach Griechenland
(http://www.youtube.com/watch?v=CZTqmI9z1oY) oder in die USA werfen
(http://www.youtube.com/watch?v=HequVgLRPUo).
Ohne großes Aufsehen hat sich die neue Berliner Koalition, bestehend aus
SPD und CDU, Ende vergangener Woche in ihrer Verhandlungsrunde zur
Regierungsbildung auf eine Verschärfung repressiver Maßnahmen geeinigt.
Wie
die Berliner Morgenpost am Mittwoch berichtete [1], wird in der deutschen
Hauptstadt der sogenannte "Unterbindungsgewahrsam", durch den Menschen
inhaftiert werden können, ohne dass sie einer Straftat überführt oder auch
nur verdächtigt werden, von bislang zwei auf vier Tage verlängert. Die vom
rot-roten Senat eingeführte polizeiliche Kennzeichnungspflicht, die es
Polizeibeamten auferlegt, an der Uniform ein Schild mit ihrem Namen oder
wahlweise einer Nummer zu tragen, soll nach Wunsch der CDU wie auch der
Polizeigewerkschaften wieder abgeschafft werden, weil sie die Beamten in
Gefahr brächte.
Bislang ist der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) allerdings
nicht bereit, dem künftigen Regierungspartner nachzugeben und die
Kennzeichnungspflicht, mit der "schwarze Schafe" im Polizeidienst leichter
zu überführen sind und die Möglichkeit der Beamten, aus der Anonymität
ihres Berufsstandes heraus Straftaten zu begehen, verringert werden
sollte, preiszugeben [2].
Die Berliner Vizepolizeipräsidentin Margarete Koppers, die die Behörde
derzeit kommissarisch leitet, ging öffentlich auf Distanz zu den
Bestrebungen, die von ihr für wichtig gehaltene Kennzeichnungspflicht
aufzugeben. In der Presse wurde zudem kolportiert, sie habe in einem
Interview mit der taz auch die Verlängerung des Unterbindungsgewahrsams
"scharf kritisiert" [1]. Später stellte sie richtig, dass sie zwei der
geplanten Maßnahmen nicht kritisiert, sondern lediglich deutlich gemacht
habe, daß keine Notwendigkeit für sie bestünde. Die derzeitige
Polizeichefin machte deutlich, dass ihrer Meinung nach die bisherige
Regelung im Berliner Landesrecht, derzufolge ein solcher Gewahrsam, der
unter strengen Voraussetzungen und mit richterlicher Genehmigung zur
Verhinderung von Straftaten verhängt werden könne, eine Zeitdauer von
maximal zwei Tagen vorsah, völlig ausreichend sei. "Dieser Zeitraum wurde
bisher so gut wie nie ausgeschöpft, daher sehe ich keine Notwendigkeit für
eine Ausweitung", so Koppers [1].
Ihre fachliche Auffassung ist jedoch nicht gefragt, haben sich doch die
künftigen Berliner Koalitionäre auf die Verlängerung dieser Zeitdauer von
zwei auf vier Tage am vergangenen Freitag bereits geeinigt. Damit wird in
Berlin ein Trend fortgesetzt, der, da der Unterbindungsgewahrsam in den
Polizeigesetzen der Länder geregelt wird und insofern zwischen den
einzelnen Bundesländern und Stadtstaaten gewisse Unterschiede aufweist, den
Polizeibehörden die mehr oder minder weitgehende Befugnis erteilt, Menschen
zu inhaftieren, die weder eine Straftat begangen haben noch auch nur dessen
verdächtigt werden. Zu einer ersten massenhaften Anwendung solcher
Regelungen kam es bereits vor zehn Jahren, im März des Jahres 2001, als
beim ersten Castor-Transport dieses Jahrtausends hunderte Menschen "in
Gewahrsam" genommen worden waren.
Der erste Castortransport dieses Jahrtausends markiert einen Meilenstein in
der Geschichte der bundesdeutschen Polizei, die sich ihrem
Selbstverständnis zufolge fundamental von ihrem historischen Vorgänger
unterscheidet. So gilt die polizeiliche "Schutzhaft" nach wie vor als
Merkmal eines totalitären Systems, wie es die Bundesrepublik Deutschland
definitionsgemäß gar nicht sein kann. "Politische Schutzhaft" ist laut dtv
"die Verwahrung von Personen, die die Staatssicherheit gefährden"; sie wird
in "totalitären Staaten" zur 'Bekämpfung von Gegnern' angewandt und ist in
der Bundesrepublik Deutschland verboten. Art. 104 des Grundgesetzes soll
zudem sicherstellen, dass ein Mensch über den Tag seiner Festnahme hinaus
nur aufgrund eines richterlichen Haftbefehls eingesperrt werden darf,
dieser wiederum habe den Zwecken der Strafverfolgung oder -vollstreckung zu
dienen.
Das alles ist jedoch - salopp gesagt - Schnee von gestern, denn längst hat
die Schutzhaft "Nazi-Deutschlands", wenn auch in abgespeckter Form und unter
anderem Namen, wieder Einlass gefunden in Theorie und Praxis deutscher
Polizeibehörden!
450 Menschen wurden "in Gewahrsam genommen", und diese Formulierung deutet
bereits an, dass es sich bei ihnen nicht um "vorläufig Festgenommene"
gehandelt hat, die einer Straftat verdächtigt wurden, sondern um Menschen,
die, um es in einer heute nicht mehr gültigen Formulierung zu sagen, in
Schutzhaft genommen wurden. Die Abkehr vom strafrechtlichen Grundsatz der
frühen Bundesrepublik, angesichts der "Nazi-Schutzhaft" eine Präventivhaft
unmöglich zu machen, hat sich längst vollzogen, nur dass das 'vorbeugende'
Einsperren von Menschen, denen die Polizei unterstellt, andernfalls eine
Straftat oder Ordnungswidrigkeit zu begehen, nun "Unterbindungsgewahrsam"
oder, wie in Niedersachsen, "Verhinderungsgewahrsam" heißt.
Damit sind die Lehren, die die bundesrepublikanischen Verfassungsväter und
-mütter aus den Schrecken des NS-Polizeistaats behaupten gezogen zu haben,
auch in diesem Punkt ad absurdum geführt.
In den Polizeigesetzen aller Bundesländer ist eine solche Ingewahrsamnahme
mittlerweile verankert, sie differiert lediglich in ihrer gesetzlich
bestimmten Höchstdauer zwischen zwei Tagen und sogar zwei Wochen wie in
Baden-Württemberg und Bayern. In Niedersachsen beträgt der
"Verhinderungsgewahrsam" maximal vier Tage; vier Tage also können hier
Menschen festgehalten werden, denen nicht das Geringste anzulasten oder
nachzuweisen ist außer der polizeilichen Vermutung, sie würden in diesem
Zeitraum sonst eine Straftat begehen wollen.
Zuallererst gegen Hooligans eingesetzt, hat diese massive Ausweitung
bisheriger Polizeibefugnisse nun auch gegen Demonstranten ihre massenhafte
Anwendung gefunden. Sie ist ihrer Zweckbestimmung nach beliebig weiter
ausdehn- und anwendbar auf alle denkbaren Konfliktsituationen, in denen die
Sicherheitsbehörden gemäß ihres Auftrags, die öffentliche Ordnung
aufrechtzuerhalten, es für geboten erachten mögen, beliebig viele Menschen,
die sie der bloßen Absicht bezichtigen, etwas Strafbares tun zu wollen,
hinter Gitter zu bringen.
Dies ist umso beunruhigender, weil es schon zuvor den sogenannten
"Schutzgewahrsam" in den Polizeigesetzen der Länder gegeben hat. Diesen
Bestimmungen zufolge kann eine Person auch dann in Verwahrung genommen
werden, wenn dies von der Polizei als erforderlich angesehen wird, um sie
an einer "unmittelbar bevorstehenden Begehung oder Fortführung mit Strafe
bedrohter Handlungen" zu hindern. Dass es sich demgegenüber beim
Unterbindungs- bzw. Verhinderungsgewahrsam um ein Druck- und Zwangsmittel
gegen politisch unliebsame Oppositionelle handelt, lässt sich aus den
jüngsten Ereignissen im Wendland unschwer ablesen.
Dieser Bewertung gibt es auch heute nicht viel hinzuzufügen. Wenn die
Berliner Polizeivizepräsidentin feststellt, dass der bisherige, auf maximal
zwei Tage befristete Unterbindungsgewahrsam vollkommen ausreiche und noch
nie voll ausgeschöpft worden sei, impliziert dies die Frage nach der
Zweckbestimmung der neuen Regelung, den Gewahrsam sogar auf vier Tage
auszudehnen. Es ist der administrative Vorgriff auf eine Repressionslogik,
die sich mit ihren vollen Wuchten, sprich ihren Ermächtigungen in einem so
hochsensiblen Bereich wie dem des direkten (Gewalt-) verhältnisses zwischen
den Organen der staatlichen Exekutive und den Bürgern, selbst über den
bisherigen Status quo hinaus den Zuschlag gibt, um ihr Tätigkeitsfeld immer
mehr in den Bereich polizeilicher Prophylaxe zu verlagern.
Dass dies rechtsstaatlich nicht nur höchst bedenklich ist, wie
Bürgerrechtsorganisationen einwenden könnten, sondern auch dem sogenannten
Geist des Grundgesetzes diametral widerspricht, wäre der Erwähnung kaum
wert, würde die Verfassung die ihr nachgesagte Bindekraft für Polizei und
Justiz tatsächlich haben. Dies allerdings einzufordern, hieße zu
ignorieren, dass die Repressionslogik ihren eigenen Gesetzen folgt und dass
auf diesem Felde schwerwiegende Schlachten, so etwa die, den Bürger als
potentielle Bedrohung zu definieren, gegen den im Grunde jede staatliche
"Schutz"-Maßnahme gerechtfertigt sei, bereits geschlagen wurde und daß auf
diesem Wege, still und klammheimlich, das einstige Gebot, Verfassung und
Grundrechte als Hürden staatlicher Gewaltausübung zum Schutze seiner Bürger
vor etwaigen Übergriffen zu begreifen, ausgehöhlt und historisch "entsorgt"
wurde.
[1] Polizeipräsidentin lehnt CDU-Plan zur Kennzeichnung ab. Von Michael
Behrendt und Hans H. Nibbrig. Berliner Morgenpost, 26.10.2011,
http://www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/article1805867/Polizeipraesidentin-lehnt-CDU-Plan-zur-Kennzeichnung-ab.html
[2] Berliner Koalition will Unterbindungsgewahrsam verlängern. Von Peter
Mühlbauer, Telepolis, 24.10.2011,
http://www.heise.de/tp/blogs/8/150689
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Vielleicht auch das noch zum Thema "Verfall":
SPIEGEL 28.10.2011
Anwälte für Verfassungsbruch
Die Verfassungsrichter stoppen das Geheimgremium für den EFSF und die
Opposition feiert das als Sieg für die Rechte der Abgeordneten.
Errungen hat ihn allerdings eine Anwaltskanzlei, die erst kürzlich auf
beispiellose Weise die Mitspracherechte eines Parlaments ausgehebelt
hatte.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,794678,00.html
In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich, die mit diesen Mitteln
fast wöchentlich die Grundrechte aushebelt bzw. missachtet?
Die Liste solche "Aktivitäten" ist lang. Man schaue nur, wie viel die
Verfassungsgerichte zu tun haben, und wie viele Gesetze und Regelungen sie
wieder außer Kraft setzen müssen, da sie gegen Gesetze verstoßen...
Greetz Andreas70
- [OWL] Der schleichende Verfall...?, Andreas Rohrmann, 30.10.2011
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