nrw-herne AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Liste der Herner Piraten
Listenarchiv
- From: Christian Kowalczyk <christian.kowalczyk AT gmx.de>
- To: "nrw-herne AT lists.piratenpartei.de" <nrw-herne AT lists.piratenpartei.de>
- Subject: [Piraten Herne] Apple und Urheberrecht
- Date: Sun, 02 May 2010 12:53:41 +0200
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/nrw-herne>
- List-id: Liste der Herner Piraten <nrw-herne.lists.piratenpartei.de>
Porträt Cory Doctorow
"Apples iPad? Eine Totgeburt!"
Er ist einer der einflussreichsten Blogger der Welt, Journalist und Buchautor. Doctorow nutzt konsequent die Gesetze des Netzes, um Geld zu verdienen, und versteht Raubkopien als eine legitime Steuer auf Ruhm. von Stephan Maus
Früher war diese Ziegelsteinfestung hier eine Fabrik. Vielleicht sogar eine Uhrenfabrik. Während der Industriellen Revolution war der Londoner Stadtteil Clerkenville bekannt für seine Feinmechaniker. Heute, ein paar Revolutionen später, hat hier der Internet-Guru Cory Doctorow ein kleines Büro voller Krams. Noch immer weht hier Schraubergeist. Doctorows Frau nennt den düsteren Raum seine Höhle. Zum Geburtstag hat sie ihm eine Kuckucksuhr geschenkt.
<http://www.ftd.de/lifestyle/entertainment/:portraet-cory-doctorow-apples-i-pad-eine-totgeburt/50101660.html?mode=print#>
Als der Kuckuck zum zweiten Mal hervorschnellt, ist Doctorow bei seinem Lieblingsfeind angekommen: "Apples iPad? Eine Totgeburt! Steve Jobs hat sich ins Handybusiness verliebt und will jetzt die besten Handys machen. Aber Handys sind die schlechteste Technologie, die wir haben. Handyfirmen sind böse und dumm. Handys sind verkrüppelt und nutzlos. Und solange der Tabletsektor so bewirtschaftet wird, wie Mobilfunkunternehmen es tun, werden Tablets eine hinkende, schlechte Alternative zum wahren Internet sein. Und jetzt will Apple in diesem bösen, nutzlosen, verkrüppelten Business mitmischen. Deswegen kaufe ich ihre Hardware nicht mehr. Das soll nicht heißen, dass man nicht profitabel sein kann, wenn man böse, dumm und nutzlos ist. Es ist einfach nur keine interessante Technologie."
Er fischt im Netz nach Kuriositäten
Interessant sind für Doctorow nur offene Technologien. Geräte und Programme, die von jedem eingesehen, verstanden und verändert werden können. Die man wie eine Kuckucksuhr auseinanderschrauben und wieder zusammensetzen kann. Um den Kuckuck vielleicht durch einen Dinosaurier zu ersetzen.
Ihn begeistert unübersichtlich wuchernde Technik, nicht die glitzernde Oberfläche eines App-Stores. Seine Jagdgründe sind die Weiten des wilden Netzes. Hier fischt er nach Kuriositäten und stellt sie in dem Blog vor, das er zusammen mit vier Mitherausgebern betreibt. Boing Boing ist eine Fundgrube voller Zeugnisse für kreativen Umgang mit neuen Technologien. Und es ist eines der meistverlinkten Blogs der Welt. Pro Monat stöbern 3 Millionen Besucher in diesem "Verzeichnis wundervoller Dinge", wie sich die Seite im Untertitel nennt. Täglich feiert dieses Kuriositätenkabinett die Unzähmbarkeit des Netzes. Boing Boing hat Cory Doctorow auf die "Forbes"-Liste der zehn einflussreichsten Internetpersönlichkeiten der Welt katapultiert.
Auch Doctorows neuester Jugendroman "Little Brother" erzählt von der subversiven Kraft des Netzes. Als Terroristen die Oakland Bridge in San Francisco sprengen, geraten der Gamer Marcus und seine Freunde in die Fänge der Heimatschutzbehörde, die bald einen Überwachungsstaat etabliert. Die Bedrohung durch Terror wird zum Alibi für totale Kontrolle. Wieder zurück in der Freiheit, entwickeln sich die Computerspieler zu rebellischen Hackern, die den staatlichen Kontrollsystemen ein Schnippchen schlagen und schließlich die Heimatschutzbehörde stürzen. "Little Brother" stand wochenlang auf der amerikanischen Bestsellerliste und wurde von der "New York Times" als "Selbstverteidigungshandbuch für das Digitalzeitalter" gelobt . Die Lektion dieses Romans, der junge Leser zu mündigen Techniknutzern erziehen möchte: Geschlossene Systeme werden offenen immer unterliegen.
Die Perversion des Urheberrechtsgedankens
Und nun soll Doctorow also etwas zum iPad sagen. Zu dieser Fernbedienung für den Internetshop iTunes, in dem man ausschließlich versiegelte Musik, Bücher und Software kaufen soll. Für Doctorow ist der iTunes-Shop die Perversion des Urheberrechtsgedankens schlechthin. Nicht Piraten sind für ihn die eigentlichen Rechtsverletzer, sondern Unternehmen, die die Nutzung ihrer Produkte durch Kopierschutz einschränken. In Deutschland zum Beispiel vertreiben Verlage die Digitalausgaben ihrer Bücher mit Kopierschutz bislang über das Portal Libreka. Für Doctorow ein Unding. Wer für ein Produkt gezahlt hat, soll auch uneingeschränkt darüber verfügen dürfen. Gegen digitales Rechtemanagement predigt Doctorow auch vor Microsoft-Managern, die ihn regelmäßig nach Redmond einladen.
"Stellen Sie sich vor, sie kaufen eine Schale mit Suppe", echauffiert er sich. "Und wenn Sie Ihre Suppe ausgelöffelt haben, lesen Sie auf dem Boden der Schale eine Notiz, die besagt: 'Durch das Auslöffeln dieser Suppe erklären Sie sich damit einverstanden, dass Sie die Suppe zu Hause nicht nachkochen dürfen.' Das ist kein vernünftiger Vertrag. Wenn Sie ein Gesetz machen wollen, das besagt, dass Leute Ihre Suppe zu Hause nicht replizieren dürfen, müssen Sie damit zum Parlament. Das können Sie nicht einfach auf Ihrer Suppenschale deklarieren. Nutzer- und Urheberrechte sind schließlich sorgfältig ausbalanciert."
Wie ein faires Zusammenspiel von Urheber- und Nutzerrechten im Internetzeitalter aussehen könnte, versucht der Urheber Doctorow mit seinen eigenen geistigen Produkten auszuloten. Jeder seiner Romane erscheint in zwei Versionen: Einmal als klassisches Printexemplar, das man im Buchhandel kaufen kann, gleichzeitig stellt Doctorow die digitale Version in allen verfügbaren E-Book-Formaten zum kostenlosen Download auf seiner Website zur Verfügung.
"Mein Problem als Autor ist nicht Piraterie, sondern Unbekanntheit", erklärt er. "Wenn die Leute mein Buch nicht kaufen, dann nicht etwa, weil sie es sich umsonst herunterladen können, sondern weil sie mich nicht kennen. Natürlich gibt es Leute, für die eine kostenlose digitale Kopie ein Ersatz für ein gedrucktes Buch ist. Aber für die meisten ist die digitale Kopie ein Kaufanreiz für die gedruckte Version." So befremdlich dieses Geschäftsmodell erst einmal klingt, so erfolgreich ist es. Fast 100.000 gedruckte Exemplare hat Doctorow von "Little Brother" verkauft. Raubkopien betrachtet er als eine legitime Steuer auf Ruhm.
Das Verlagsgeschäft immer wieder neu erfinden
Doctorows Strategie ist nicht der Traum eines naiven Info-Hippies, sondern der Versuch, den Realitäten des Netzes gerecht zu werden. "Niemand weiß, was die Zukunft bringen wird", erklärt er. "Aber eins ist sicher: Ich werde niemals verhindern können, dass Leute meine Bücher kostenlos herunterladen, wenn sie es wollen. Es ist nicht besonders schwierig, Bücher einzuscannen. Und sobald ein Buch im Netz ist, können wir das Kopieren nicht aufhalten. Wenn Ihr Plan für E-Books auf der Idee gründet, dass die Leser es nicht irgendwo umsonst bekommen, haben Sie ein Problem. Jedes Geschäftsmodell muss auf der Idee gründen, dass die Leute uns freiwillig bezahlen."
Doctorow weiß so wenig wie alle anderen Auguren, in welche Richtung sich das Verlagsgeschäft entwickeln wird. Vielleicht werden Amazons Kindle oder Apples iPad alles verändern. Aber ihm ist es wichtig, an der vordersten Front der Technik dabei zu sein, um experimentieren zu können. "Es ist falsch zu glauben, dass wir uns auf eine Periode technischer Stabilität zubewegen", sagt er. "Wir werden nicht in fünf Jahren aufwachen und sagen können: 'So, jetzt haben wir alle technischen Veränderungen hinter uns. Jetzt wissen wir für die nächsten 100 Jahre, wie das Verlagsbusiness funktioniert.' Nein. Wir werden das Verlagsgeschäft bis zum Ende aller Zeiten neu erfinden müssen. Und mein Fingerspitzengefühl wird besser sein, wenn ich verstehe, was im Markt passiert und darauf reagieren kann. "Fingerspitzengefühl" - er sagt das Wort auf Deutsch - "ist mein Lieblingswort in Ihrer Sprache."
- [Piraten Herne] Apple und Urheberrecht, Christian Kowalczyk, 02.05.2010
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