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[Ag-waffenrecht] ... aber unbewaffnet in Europa bin ich mit meiner Frau und unserem Kind ein einfaches Ziel
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- Subject: [Ag-waffenrecht] ... aber unbewaffnet in Europa bin ich mit meiner Frau und unserem Kind ein einfaches Ziel
- Date: Fri, 11 Dec 2015 14:39:41 +0100
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Der Däne Jorgen Nicolai ist Ingenieur, Familienvater - und hat in Syrien IS-Dschihadisten getötet. Aus Rache für einen toten Freund. Hier spricht er über Reue, Angst und seine Sehnsucht nach dem Krieg.
Der dänische Ingenieur Jorgen Nicolai ging im November 2014 nach Syrien. Dort schloss er sich den "Volksverteidigungseinheiten" (YPG) an, dem syrischen Ableger der türkisch-kurdischen "Arbeiterorganisation" (PKK).
An vorderster Front kämpfte der 41-Jährige gegen den "Islamischen Staat" (IS). Seit April 2015 lebt er wieder in Europa. Über seine Zeit in Syrien hat er ein Buch geschrieben, "Heval", Kamerad auf Kurdisch. So hatten ihn die YPG-Kämpfer genannt. Wenn Nicolai über den Feind spricht, dann nie als "IS", sondern immer als "Daesch". Es ist die verächtliche arabische Abkürzung für den IS.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben für ein Foto neben der Leiche eines getöteten IS-Kämpfers posiert. Wie fühlt sich das heute an?
Nicolai: Vieles wirkt irreal. Ich kann nicht immer glauben, dass es tatsächlich passiert ist. Ich saß neben einem toten Daesch! Wenn ich das Bild jetzt sehe, denke ich, das war falsch. Aber ich muss mich auch daran erinnern: Er hat versucht, mich umzubringen.
Das Foto entstand nach der Schlacht um Tel Hamis im Februar 2015, als die YPG die Stadt vom IS zurückeroberte. Jorgen Nicolai stand am Maschinengewehr auf einem gepanzerten Fahrzeug, das mitten durch die Felder fuhr auf der Jagd nach IS-Kämpfern, die sich in Gräben verschanzt hatten.
SPIEGEL ONLINE: Was war kurz vor der Aufnahme passiert?
Nicolai: Ich hatte einen Daesch-Stützpunkt entdeckt, direkt vor uns. Doch ich hatte fast keine Munition mehr. Mein Kamerad gab mir eine Granate. Seine Hände haben gezittert, denn der Stift war schon gezogen. Wenn ich sie dort fallengelassen hätte, wären wir beide gestorben. Ich habe sie geworfen und getroffen. Der eine Daesch flog einen Meter in die Luft. Er war tot. Der zweite Daesch war verwundet, aber bewegte sich noch. Man gab mir eine zweite Granate, die ich nach ihm warf. Sie explodierte. Dann bewegte er sich nicht mehr.
Nicolai verwendet die arabischsprachige IS-Abkürzung "Daesch" nicht nur, wenn er von der Organisation spricht, sondern auch, wenn er Menschen meint, die er getötet hat. Wie viele Kämpfer, deshumanisiert er den Feind.
SPIEGEL ONLINE: Wie viele IS-Kämpfer haben Sie getötet?
Nicolai: Ich weiß, wie viele, weil wir intern Statistik geführt haben. Aber ich möchte nicht darüber reden. Das Töten ist für mich schwierig. Es war mein Job als Soldat. Ich schäme mich nicht dafür, aber ich möchte auch nicht damit angeben.
Fast zufällig wurde Nicolai zum Kämpfer. Er hatte den Peschmerga im Irak seine Hilfe als Techniker angeboten. Doch die nahmen damals noch keine Ausländer auf. Also ging er zum inner-kurdischen Rivalen, der YPG.
SPIEGEL ONLINE: Waren Sie davor schon einmal im Krieg?
Nicolai: Nein. Ich habe meinen Wehrdienst in der dänischen Armee absolviert und bin Reservist geblieben. Das war's. Ich hatte anfangs gar nicht den Mut zu kämpfen. Erst als ich die anderen ausländischen Kämpfer bei der YPG traf, hatte ich das Gefühl: Mit ihnen habe ich eine realistische Chance zu überleben.
Nicolai kämpfte als Teil eines Teams von insgesamt fünf ausländischen Kämpfern aus Nordamerika und aus England. Außer ihm hätten die meisten einen langjährigen Militärhintergrund gehabt, sagt Nicolai. Manche hätten sogar in Spezialeinheiten gedient. So weit er wisse, seien alle vier noch in Syrien.
SPIEGEL ONLINE: Warum sind Sie zurück nach Europa?
Nicolai: Aus mehreren Gründen. Ich war völlig erschöpft, ich hatte monatelang gekämpft. Wir haben immer auf dem Boden geschlafen. Überall hatte ich blaue Flecken. Zudem musste ich mich um meine Rechnungen zu Hause kümmern - die Miete, die Versicherungen, das lief ja alles weiter. Ich bekam von der YPG kein Geld, ich war ja Freiwilliger. Und ich erinnere mich, dass ich gedacht habe: Wenn ich zu lange bleibe, werde ich nicht immer Glück haben. Irgendwann werde ich sterben.
Der Däne war gegen den IS in den Krieg gezogen - aus Rache. Denn im Sommer 2014 wurde in Aleppo ein syrischer Freund von ihm entführt. Nicolai ist sich sicher, dass die Dschihadisten dahinterstecken und seinen Freund ermordet haben. Die beiden hatten sich 2003 kennengelernt, als Nicolai für ein Jahr als Ingenieur in Aleppo arbeitete. Seitdem waren sie in Kontakt geblieben.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie stolz auf das, was Sie getan haben?
Nicolai: Stolz ist ein großes Wort. Ich hatte Glück. Ein Krieg besteht aus vielen verschiedenen Feldzügen. Ich hatte das Glück, dort zu sein, wo wir Daesch zurückgedrängt haben.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie erreicht, was Sie wollten?
Jorgen Nicolai: Ja, ich bin nicht desillusioniert zurückgekommen. Dieser Krieg ist für mich noch immer gerechtfertigt. Das Töten bringt dir den Freund nicht zurück. Es macht es nicht richtig, aber es macht es besser. Es ist sehr archaisch, wahrscheinlich trifft es "Rache" besser als "Gerechtigkeit". Es fühlt sich besser an, wenn man weiß: Sie mussten dafür bezahlen.
SPIEGEL ONLINE: Trotzdem würden Sie gern zurück an die Front.
Nicolai: Ja. Ich schaue mich in Europa nach Ingenieursjobs um, aber andererseits würde ich sehr gerne zurück, wenn es sich finanziell irgendwie machen lässt. Dann wiederum möchte ich das meiner Frau nicht noch einmal antun. Sie ist immer noch wütend. Aber ich vermisse meine Kameraden die ganze Zeit. Man wächst eng zusammen, wenn man zusammen lebt und stirbt.
Nicolai ist innerlich zerrissen. Einerseits war er auf eigenen Wunsch nach Europa zurückgekehrt, zu seiner Familie. Andererseits sehnt er sich zurück nach den Emotionen und dem vermeintlichen Sinn, den er im Krieg zu spüren glaubte. Er sagt, er habe sich problemlos wieder zu Hause integrieren können. Doch manchmal scheint es, als mache er sich damit selbst etwas vor. Denn in sein altes Leben konnte er bisher nicht ganz zurückkehren. Manchmal verfolgt ihn der Krieg noch.
SPIEGEL ONLINE: Hat der Krieg Ihr Leben zu Hause verändert?
Nicolai: Ich lebe nicht mehr in Dänemark. Da würde ich mich nicht sicher fühlen. Es gibt so viele dänische Daesch-Anhänger, die mich erkennen könnten. Ich lebe in einem anderen Land, das ich nicht nennen werde.
In Syrien konnte ich mich schützen, aber unbewaffnet in Europa bin ich mit meiner Frau und unserem Kind ein einfaches Ziel. Ich habe jetzt einen Waffenschein gemacht und mir eine Waffe gekauft. Früher machte ich mir nichts aus solchen Dingen. Nun habe ich immer eine Waffe in Reichweite.
Wenn ich abends vor die Haustüre gehe, um eine zu rauchen, mache ich immer das Licht aus. Sonst würde ich spüren, wie sich aus der Dunkelheit ein Gewehr auf mich richtet. Ich bin zu sehr die Lichtdisziplin der Front gewöhnt.
Quelle:
"Nicht die Diktatoren schaffen die Diktaturen, sondern die Herden." (Georges Bernanos)
"Ein Igel ist das Bild eines bewaffneten Friedens." (Wilhelm Busch)
- [Ag-waffenrecht] ... aber unbewaffnet in Europa bin ich mit meiner Frau und unserem Kind ein einfaches Ziel, gewisser . M, 11.12.2015
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