ag-umwelt AT lists.piratenpartei.de
Betreff: Ag-umwelt mailing list
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- From: "Dr. Volker Jaenisch" <volker.jaenisch AT inqbus.de>
- To: ag-umwelt AT lists.piratenpartei.de
- Subject: Re: [Ag-umwelt] Anschaulich: Kipp-Punkte des Eises in der Arktis
- Date: Tue, 08 Mar 2011 21:31:38 +0100
- List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-umwelt>
- List-id: <ag-umwelt.lists.piratenpartei.de>
Ahoi Kai! Am 08.03.2011 18:08, schrieb Kai Orak: Wissenslogs.de Autor schreibt: "Für mich bleibt das Meereis ein Kipp-Element, das sich schon nach nur 0,8 ºC globaler Erwärmung mitten im Übergang in den eisfreien Zustand befindet."Du folgst nicht der Piraten-Tugend selber zu denken. In dem GRL-Artikel wird gezeigt, dass sich das Meereis erholt, wenn die Temperatur nach einer spontanen Erwärmung wieder absinkt. Das bedeutet, dass wahrscheinlich keine _Hysterese_ auftritt, also kein _unumkehrbahrer_ Kipppunkt vorliegt (wenn man nur das Eis betrachtet! Auftauender Permafrost z.B. wurde in der Studie nicht berücksichtigt, sicher weil man wenig darüber weiß). In Wissenslogs.de wird deutlich und anschaulich zwischen einem Kipppunkt und einem unumkehrbaren Kipppunkt unterschieden. Das eine Studie sagt, dass wahrscheinlich kein unumkehrbarer Kipppunkt vorliegt, bedeutet noch lange nicht dass kein Kipppunkt vorliegt. Zu einem Kipppunkt und einem irreversiblen Kipppunkt ein Beispiel. Nehmen wir einen hitzebeständigen Ballon und füllen ihn mit Wasser. Nun erwärmen wir das Wasser mit Hilfe von z.B. Mikrowellen. Die Temperatur des Wassers steigt, bis ein Kipppunkt erreicht ist und das Wasser kochend in Dampf übergeht. Der ballon dehnt sich spontan stark aus, es gibt als eine starke Veränderung. Ist das Wasser kurz unter dem Siedepunkt gibt es nur eine minimale Ausdehnung des Ballons aber ab dem Siedepunkt (Kipppunkt) passiert ganz deutlich etwas anderes als darunter. Reduzieren wir die Temperatur unter den Siedepunkt so stellt sich durch Kondensation wieder der ursprüngliche Zustand ein. Wir haben also einen reversiblen Prozess, den wir immer weiderholen können, ohne dass etwas anderes passiert. Nehmen wir anstelle des Ballons einen Topf mit Deckel so bekommen wir ein irreversibles System. Durch den beim Sieden durch Topfdeckelklappern etweichenden Dampf verlieren wir Wasser. Drehen wir die Temperatur unter den Siedepunkt so haben wir auf einmal weniger Wasser im Topf als vorher. Erwärmen wir nun den Topf erneut mit der gleichen Wärmemenge beginnt das Wasser früher zu sieden und nach kürzerer Zeit bekommen wir einen Wasserverlust. Wenn wir dieses Spiel wiederholen haben wir irgendwann kein Wasser mehr im Topf. Wir haben also einen irreversiblen und sich selbst beschleunigenden Prozess. Mich ödet die von EIKE (und Dir) verwendete Argumentationsstrategie ("Wir beweisen euch, dass es kein XYZ gibt!" ) langsam an. Sie läuft immer nach dem gleichen Muster ab. Daher für alle kritischen Denker hier mal ein kleiner Ausflug in die formale Logik. Es werden These und Antithese als Gegensatzpaar aufgestellt: Entweder T: "Es gibt Meereisschwund" oder A: "Es gibt keinen Meereisschwund." Bauform : Entweder T oder A (A=-T) Dann wird der These quasi als Hebel eine Folgerung angehängt. T1: Wenn es Meereisschwund gibt, dann gibt es auch einen Kipppunkt. Bauform: T -> K oder/also T2: Wenn es einen Kipppunkt gibt, gibt es auch einen Meereisschwund. Bauform: K -> T Dann wird ein Paper gesucht, welches der angehängten Folgerung wiederspricht (oder zu wiedersprechen scheint). Mir ist kein solches Paper bekannt, aber nehmen wir mal an es gäbe ein Paper, dass schlüssig zeigt: Es gibt keinen Kipppunkt beim Eisschwund also -K ist wahr. Aus deisem Paper folgert EIKE messerscharf: Wenn es keinen Kipppunkt gibt, dann kann es auch keinen Meereseisschwund geben. Bauform: -K -> -T -> A Diese Argumentationskette ist, obwohl man sie formal logisch beschreiben kann, und obwohl immer wieder erstaunlich viele Menschen darauf hereinfallen, schlicht und einfach falsch. [Da allerdings fast alle Politiker, Börsenmakler, religiöse Spinner usw., aller Fraktionen solche Argumentationen jeden Tag von sich geben scheint man das Denken verlernt zu haben. Das liegt sicher daran, dass wir Menschen in Kausalketten denken, ob wir nun wollen oder nicht.] Falsch ist die Argumentationskette aus folgenden Gründen: A) Die Subthese T1 ist an sich schon falsch. Es kann auch einen Schwund von Meereseis geben, ohne einen Kipppunkt (reversibel oder nicht). Wenn das Eis einfach mit gleicher Geschwindigkeit weiter taut (was es gerade macht) dann ist auch ohne einen Kipppunkt irgendwann alles weg (sofern die Temperaturen nicht wieder zurückgehen.). B) Die daraus abgeleitete These T2 ist sinnfrei, allein da sie aus der falschen Aussage T1 folgert. Der RÖmer sagt: Ex falso quod libet. Ein einfaches Beispiel: "Wenn der Mond aus grünem Käse ist, bin ich der schönste Mann der Welt" - ist eine formal logisch richtige Aussage, die aber meinem Aussehen leider nichts genützt hat - habe immer noch Pickel. Weiterhin ist die Kausalumkehr falsch: Wenn T -> K bedeutet nicht notwendigerweise daß auch gilt K -> T. Der Kipppunkt ist, anders als es suggeriert wird, keine "zwingende Vorraussetzung" für den Meereseisschwund. Ein Kipppunkt ist schlicht und ergreifend eine Beschreibung der Art und Weise, wie sich die Meereisbedeckung verhält, also die Kurvenform der Observable Meereisbedeckung. Sehr gut erklärt im Wissenslogs.de. Nicht der Kipppunkt bringt das Eis zum Auftauen, noch irgendein Naturgesetz. Das Eis taut und man kann dieses Auftauen mit Naturgesetzen (z.B. einem reversiblen Kipppunkt) beschreiben und quantifizieren und vorsichtige Extrapolationen machen. Die Folgerung von EIKE -K -> -T -> A ist allerdings formal logisch gesehen richtig, sofern gilt : (-T exklusiv oder T) ist wahr. C) Aber schon die vorgeschobene Generalthese "Es gibt entweder einen Meereisschwund oder es gibt keinen Meereisschwund" ist falsch: Es könnte ja z.B. das Meereis ab einem Punkt nicht weiter schmelzen und dafür nur der Permafrost auftauen. Oder anstelle des arktischen schilzt das antarktische Eis. Es ist also eine willkürliche und nicht zulässige Verengung des Möglichkeitsraumes, den EIKE vornimmt indem -T = A gesetzt wird. Kurz zusammengefasst: Diese Argumtationskette ist so gefährlich, weil Teile davon formal korrekt sind aber auch manche wie auch die Vorraussetzungen falsch. Altdeutsch würde man sagen: Wenn man die Kuh aufs Eis stellt so bricht sie ein. Was wir Wissenschaftler beobachten ist folgendes: Das Meereis in der Arktis schmilzt. Sowohl der Bedeckungsgrad, als auch die Dicke des Meereises geht zurück. Hält der momentan beobachtete Trend an, so wird die Arktis in nicht all zu ferner Zeit Eisfrei sein. Die meteorologischen Auswirkungen erleben wir jetzt schon. Die massiven Kälteeinbrüche im Winter (wie sie in den letzten Jahren zunehmend beobachtet werden) zeugen vom sich Destabilisieren des Polarwirbels. Die Störungen des Polarwirbels werden wohl hervorgerufen durch ein kleines Meer nordöstlich von Norwegen, welches nun beginnt Eisfrei zu werden. Der kurze Beobachtungszeitraum reicht noch nicht aus, um diese These zu beweisen, aber es ist die beste Erklärung für die Beobachtungen, die wir momentan haben. Was passiert, wenn der ganze Pol nicht mehr Eisbedeckt ist, ist schwer vorherzusagen. Die Wechselwirkung zwischen unserer Atmosphäre und dem polaren Meer sind noch nicht gut erforscht. Das liegt nicht an den dummen Wissenschaftlern (wie EIKE immer suggeriert), sondern daran, dass in den letzten paar hundert Jahren diese Wechselwirkung nicht bestand, also nicht untersucht werden konnte. Aber es zeigt sich auch, dass unser mangeldes Verständnis dieser Wechelwirkung nicht zu einem Überschätzen des Meereisschwundes sondern stets in einer Unterschätzung des Phänomens resultierte. Das Meereis hat uns immer wieder damit verblüfft schneller zu schmelzen als vorhergesagt. Dies liegt unter anderem daran, dass es viel zu wenig Daten zur Mächtigkeit des Eises gibt und gerade historische Daten nur spärlich vorhanden sind. Das Paper, das Kai oben zitiert, macht allerdings ein wenig Hoffnung indem es zeigt, dass großräuminger Temperaturtransport durch Höhenströmungen dazu führen kann, dass sich das Meereis erneut bildet, wenn die Temperatur der Erde wieder sinkt. Ich denke es ist wert daran zu arbeiten, dass dies geschieht. Beste Grüße Volker -- ==================================================== inqbus it-consulting +49 ( 341 ) 5643800 Dr. Volker Jaenisch http://www.inqbus.de Herloßsohnstr. 12 0 4 1 5 5 Leipzig N O T - F Ä L L E +49 ( 170 ) 3113748 ==================================================== |
- [Ag-umwelt] Anschaulich: Kipp-Punkte des Eises in der Arktis, Dr. Volker Jaenisch, 02.03.2011
- Re: [Ag-umwelt] Anschaulich: Kipp-Punkte des Eises in der Arktis, Kai Orak, 08.03.2011
- Re: [Ag-umwelt] Anschaulich: Kipp-Punkte des Eises in der Arktis, Dr. Volker Jaenisch, 08.03.2011
- Re: [Ag-umwelt] Anschaulich: Kipp-Punkte des Eises in der Arktis, Kai Orak, 08.03.2011
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