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- Subject: [Ag-umwelt] TELEPOLIS: Cocktaileffekte im Wasserglas?
- Date: Wed, 03 Nov 2010 09:51:18 +0100
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Ein lesenwerter Artikel zu Medikamentenrückständen im Trinkwasser
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02.11.2010 09:01
Cocktaileffekte im Wasserglas?
Arzneimittel sind auf Stabilität optimiert. Denn bevor sie im Körper
abgebaut werden, sollen sie möglichst viele kranken Zellen erreichen.
Mit zweierlei Konsequenz: Zum einen werden die Substanzen nicht
vollständig im menschlichen Körper verstoffwechselt, sondern über
den Urin wieder ausgeschieden. Zum anderen erschwert die Stabilität
der Moleküle den biologischen Abbau in den Kläranlagen. Von den
Kläranlagen geht es dann über die Gewässer und das Grundwasser
zurück in das Trinkwasser.
In welchen Konzentrationen welche Mittel wohin gelangen, ist zur Zeit
Gegenstand der Forschung. Toxikologen rechnen damit, dass die Belastung
des Trinkwassers mit Arzneimitteln innerhalb der nächsten 20 Jahre um
bis zu 30 Prozent steigen wird.
Geowissenschaftler der Jacobs University in Bremen haben jüngst die
Konzentration von Gadolinium im Berliner Trinkwasser verfolgt und auf
einer Karte (pdf[1]) veröffentlicht. Das chemische Element, das als
Kontrastmittel bei der Magnetresonanz-Tomografie eingesetzt wird,
lässt sich extrem lange im Wasser nachweisen.
Die Analyse ergab große Unterschiede in den Berliner Bezirken. Am
höchsten war sie mit 6,16 Nanogramm/kg in Berlin Mitte, der Spiegel
(41/2010) vermutete die Uni-Klinik Charité als Verursacherin. Der
Autor der Studie, Michael Blau, verwarf diese Vermutung auf Anfrage der
Telepolis: "Das Abwasser der meisten Kliniken und natürlich aller
niedergelassenen Radiologen landet letztlich im normalen Abwasser. Der
Ost-West-Unterschied in Berlin hat mit der Tatsache zu tun, dass im
Westen bewusst Grundwasseranreicherung mit Oberflächenwasser gemacht
wurde und wird und die großen Kläranlagen natürlich in die Havel und
den Teltow-Kanal einleiten."
Die Berliner Wasserbetriebe weichen aus: Man sähe keine Beweise
dafür, dass das Vorhandensein von Gadolinium ein belastbarer Hinweis
auf Arzneimittelrückstände im Trinkwasser ist. Richtig ist, dass noch
nicht vollständig bewiesen wurde, das Gadolinium ein guter Indikator
ist. Richtig ist aber auch, dass bisher 15 verschiedene
Arzneimittelwirkstoffe in deutschen Trinkwasserproben gefunden wurden.
Die gemessenen Konzentrationen sind dabei zwar mit wenigen Nanogramm
pro Liter noch einmal deutlich niedriger als im Oberflächen- und
Grundwasser. Dort liegen die gemessenen Konzentrationen
durchschnittlich im Bereich von wenigen Milliardstel bis zu einigen
Millionstel Gramm pro Liter (Nano- beziehungsweise Mikrogramm pro
Liter).
Löst man beispielsweise einen Würfel Zucker im Berliner Wannsee auf,
ergibt sich eine Zuckerkonzentration von rund einem Nanogramm pro
Liter. Und im Trinkwasser findet sich noch einmal weniger als in den
Gewässern. Der in Antiepileptika eingesetzte Wirkstoff Carbamazepin
konnte in einigen Trinkwasserproben in Konzentrationen von 30 Nanogramm
pro Liter nachgewiesen werden. Ein Mensch, der täglich zwei Liter
trinkt, würde in einem siebzigjährigen Leben nur einige Tausendstel
einer empfohlenen Tagesdosis (rund 600 mg) aufnehmen. Nach
Expertenmeinung können daher zur Zeit akute Gesundheitsgefährdungen
durch den Konsum von Trinkwasser nahezu ausgeschlossen werden.
Also keine Gefahr? Ganz so einfach ist es nicht, denn es ist weitgehend
unerforscht, inwieweit auch diese kleinen Dosen unbekannte Effekte
auslösen können. Der Cocktaileffekt der lebenslangen Aufnahme von
Stoffen und Gemischen von Stoffen im menschlichen Körper rückt erst
langsam in den Fokus der Forscher. Das Bundesministerium für Bildung
und Forschung finanzierte 2005 eine vor drei Jahren abgeschlossene
Studie[2], die Strategien zum Umgang mit Arzneimitteln im Trinkwasser
erarbeiten sollten. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass eine
"fundierte wissenschaftliche Risikoabschätzung" in bezug auf den
Cocktaileffekt "derzeit noch nicht möglich" sei.
Die Tierwelt hat auf die Arzneimittelrückstände in ihrer Umwelt schon
reagiert. Dass Verhütungsmittelrückstände in Flüssen und Seen zur
Verweiblichung von männlichen Fischen beitragen, gilt als erwiesen.
Und in Indien und Pakistan wird das Aussterben von drei Geierarten
darauf zurück geführt, dass sie verendete Rinder gegessen hatten, die
mit dem Antirheumatikum Diclofenac behandelt worden waren.
Was tun?
(1) Eine repräsentative Untersuchung hat 2006 ergeben, dass jeder
siebte Bundesbürger seine nicht mehr benötigten Tabletten zumindest
gelegentlich im WC entsorgt. Flüssige Arzneimittelreste kippen sogar
die Hälfte zeitweise in den Ausguss oder die Toilette. Dabei stehen
die Apotheken offen, um Medikamente aller Art zurück zu nehmen. Ärzte
und Apotheker sind aufgerufen bei sich, Patienten und Kunden ein
Problembewusstsein zu schaffen.
(2) Die Arzneimittelhersteller haben mit der Entwicklung sogenannter
"grüner Wirkstoffe" begonnen, die in der Umwelt besser abgebaut
werden.
(3) In einer Studie an der Universität Gießen wurde unter anderem die
verordnete Menge von Carbamazepin im Einzugsgebiet der dortigen
Kläranlage für einen bestimmten Zeitraum bilanziert. Durch die
Analyse des der Kläranlage zulaufenden Abwassers konnte der
tatsächlich ausgeschiedene Arzneimittelwirkstoffanteil einwohnerscharf
für dieses Einzugsgebiet kalkuliert werden. Ergebnis: Es fanden sich
etwa 8% der verschriebenen Menge des Wirkstoffs Carbamazepin im Zulauf
der Kläranlage wieder. Hiervon wurden lediglich 9% in der Anlage
zurückgehalten, so dass über 90% über den Ablauf der Kläranlage in
die Umwelt gelangten. Damit dieser Wert sinkt, hat die Hochschule
Biberach ein Verfahren zur Behandlung von Abwasser zur Entnahme von
Spurenstoffen entwickelt. Dabei ist es gelungen, durch den Zusatz von
Aktivkohle Hormone und Medikamentenrückstände maßgeblich zu
reduzieren.
(jah-blog[3]/)
URL dieses Artikels:
http://www.heise.de/tp/blogs/3/148636
Links in diesem Artikel:
[1]
http://www.jacobs-university.de/sites/default/files/uploaded_files/NEWS/3Q2010/Berlin_gadoliniumbelastung_karte.pdf
[2] http://www.start-project.de/projekt.htm
[3] mailto:jah-blog AT blogext.heise.de
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- [Ag-umwelt] TELEPOLIS: Cocktaileffekte im Wasserglas?, Hanns-Jörg Rohwedder, 03.11.2010
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