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ag-drogen - [Drogenpolitik] Tod durch Cannabis? - Eine kritische Betrachtung

ag-drogen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Mailingliste der AG Drogen- und Suchtpolitik

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[Drogenpolitik] Tod durch Cannabis? - Eine kritische Betrachtung


Chronologisch Thread 
  • From: Maximilian Plenert <max.plenert AT hanfverband.de>
  • To: dhv-info AT listen.jpberlin.de, schildower-kreis-info AT listen.jpberlin.de, Top <mapde-topnews AT listen.jpberlin.de>, Grüne Drogenpolitik: Debattenliste - Bundesebene <debatte AT lists.gruene-drogenpolitik.de>, linke-drogenpolitik AT yahoogroups.de, Liste: AG_Drogen <ag-drogen AT lists.piratenpartei.de>, SCM <scm-mitglieder AT selbsthilfenetzwerk-cannabis-medizin.de>
  • Subject: [Drogenpolitik] Tod durch Cannabis? - Eine kritische Betrachtung
  • Date: Thu, 27 Feb 2014 15:32:10 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-drogen>
  • List-id: Mailingliste der AG Drogen- und Suchtpolitik <ag-drogen.lists.piratenpartei.de>
  • Organization: Deutscher Hanfverband

Tod durch Cannabis? - Eine kritische Betrachtung
<http://hanfverband.de/index.php/nachrichten/blog/2346-tod-durch-cannabis-eine-kritische-betrachtung>


Geschrieben von: Maximilian Plenert
Donnerstag, den 27. Februar 2014 um 14:19 Uhr

Am 25.2.2014 erschien in der Rheinzeitung der Artikel „Cannabis erstmals als
Todesursache nachgewiesen“
<http://www.rp-online.de/leben/gesundheit/zum-ersten-mal-cannabis-als-todesursache-nachgewiesen-aid-1.4061016>.
Darin wird Dr. Benno Hartung, Rechtsmediziner und Mitautor des
zugrundeliegenden
Fallberichts, der in der Fachzeitschrift "Forensic Science International"
erschienen ist, mit den Worten zitiert: "Nach unserem Wissen sind das weltweit
die ersten Cannabis-Todesfälle, die komplett nach den heutigen
wissenschaftlichen Standards aufgearbeitet wurden". Zu diesem Ergebnis kamen
er
und seine Kollegen, nachdem sie THC im Blut der Toten gefunden hatten und
ihrer
Meinung nach alle anderen möglichen Ursachen ausgeschlossen hatten. Das
Medienecho auf diese Meldung ist enorm, sie findet auch international
Beachtung.
Bei näherer Betrachtung ist der vermeintliche Beweis keiner und auch die
Neuigkeit ist keine.

Die Studie kann aus mehreren Blickwinkeln betrachtet werden. Neben einer
Kritik
an der Studie selbst kann auch das vermeintlich gefundene Risiko in der
Gesamtdebatte betrachtet werden.

*1. Kritik an der Studie selbst*

Die Untersuchung von Hartung und Kollegen weist viele Schwächen auf.
Insbesondere die Vorgehensweise "Wir haben alles andere ausgeschlossen, darum
muss es Cannabis sein“ ist fragwürdig. Zudem litt beispielsweise einer der
Toten
an einer hypertrophen Kardiomyopathie. Plötzliche Todesfällen von Menschen
unter
35 Jahren sind häufig auf Sport und eine unbemerkte Hypertrophe
Kardiomyopathie
zurückzuführen. Wir werden Herrn Hartung in einer Mail um Stellungnahme zu den
von uns und anderen genannten Punkten bitten.

Franjo Grotenhermen: „Meistens findet man bei plötzlichem Herztod keine
Ursache,
und wenn man jetzt bei Betroffenen THC findet, dann sagt das ja über die
Ursache
nichts aus.“

In der ZEIT
<http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2014-02/cannabis-kiffen-tod-marihuana-rechtsmedizin>
haben
sich bereit Michael Tsokos, Leiter der Rechtsmedizin an der Berliner Charité,
Frank Mußhoff vom Forensisch Toxikoloischen Centrum München und Rainer
Thomasius, Leiter des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und
Jugendalters zu Wort gemeldet.

Zur Frage der ZEIT: "Belegen die ausführlichen Obduktionsergebnisse der beiden
Männer nun, dass sie am Hasch starben?“ sagte Tsokos: „Die einzelnen Befunde
stützen das nicht". "Aus ihnen geht hervor, dass der 23-jährige Verstorbene
schwer am Herzen vorerkrankt war. Hätte er nicht zufällig am Tag vor seinem
Tod
Cannabis geraucht, wäre ein Zusammenhang mit seinem Tod gar nicht hergestellt
worden. [...] Fälle, in denen die Todesursache unklar ist, haben wir
vereinzelt
immer wieder. Cannabis als Ursache zu vermuten, ist für mich eine
Verlegenheitsdiagnose." Tsokos betont: "Hier geht es um Koinzidenz und nicht
um
Kausalität."

Mußhoff wird mit folgenden Worten zitiert: "Da nach den Analysen nichts
anderes
mehr auftauchte, haben sich Hartung und sein Team auf Cannabis verstiegen". Er
weist auch auf die niedrigen THC- und THCOOH-Werte im Blut der Toten hin.
Diese
sprechen gegen eine aktuelle Rauschwirkung.

Rainer Thomasius, den niemand der Cannabisliebe verdächtigen würde, sagte:
"Menschen mit Herzschäden, Blutfettstoffwechselstörungen oder
Gefäßerkrankungen
haben ein erhöhtes Infarktrisiko, wenn sie Cannabis konsumieren [..] Das ist
aber keine neue Erkenntnis. [...] Das betrifft aber nur einen Bruchteil von
Menschen und ist sehr selten"

David Nutt hatte sich jüngst in einem ähnlichen Falls zu einer "Cannabistoten"
in Großbritannien geäußert
<http://drugscience.org.uk/blog/2014/01/31/death-by-cannabis/>.

*2. “Wie gefährlich ist Cannabis?” ist nicht die entscheidende Frage*

Dr. Raphael Gaßmann sagte bei der “Cannabis Social Clubs” Anhörung im
Bundestag
hierzu:

“Aus Sicht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ist die entscheidende
Frage
nicht, ob Cannabiskonsum abhängig machen kann und ob es schädlich ist. Die
entscheidende Frage ist die des Cannabisverbots. Nutzt das Cannabisverbot im
positiven Sinne? Bewirkt das Verbot, dass weniger Menschen Cannabis
konsumieren
und dass jene, die Cannabis konsumieren, auf Grund des Verbots weniger
konsumieren. Das ist die entscheidende Frage und nicht die Frage, ob Cannabis
abhängig machen kann.”

Insbesondere wenn es sich um sehr seltene Probleme handelt, wie in diesem Fall
oder auch das angeblich um 70 % gestiegene Hodenkrebsrisiko
<http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/marihuana-konsum-joints-erhoehen-hodenkrebs-risiko-a-606391.html>
bei
7 Hodenkrebsfällen pro 100.000 Männer pro Jahr.

*3. Cannabis kann zu gesundheitlichen Schäden führen*

Der Konsum von Cannabis, insbesondere geraucht und mit Tabak, kann zu
gesundheitlichen Probleme führen. Insbesondere Schwangere, Menschen mit
Schizophrenie oder Herzproblemen sollten generell vorsichtig sein. Cannabis,
insbesondere geraucht und mit Tabak, erhöht die Herzfrequenz und das kann im
ungünstigsten Fall tödlich sein. Bei unbemerkten Vorerkrankungen ist dies ein
nicht vermeidbares Risiko.

Gleichwohl ist dieses Risiko auch bei anderen Handlungen, die zu Herzrasen
führen, gegeben, z.B. Sex, Sport, Saunagänge, Horrorfilme, Streitigkeiten,
Besuche beim Jobcenter, Mobbing, gefährliche Situationen im Verkehr oder die
Lektüre der Rheinzeitung zum Thema Cannabistote.

Wenn man genug Personen über einen ausreichend langen Zeitraum beobachtet,
stirbt auch jemand, z.b. ist 1 Toter pro Berlinmarathon
<http://www.welt.de/gesundheit/article119690085/Die-Angst-des-Laeufers-vor-dem-Herztod.html>
normal.

Damit ist diese Aussage von Hartung eine Nullaussage: "Das Problem ist: Wir
können nicht abschätzen, wer die Herzrhythmusstörungen bekommt. Wir gehen
jedoch
davon aus, dass es theoretisch jeden Cannabis-Konsumenten treffen kann, auch
wenn er vorher schon einmal gekifft hat, ohne dass er Symptome entwickelt
hat."

In den Aussagen von Hartung ist erkennbar, dass er mit seiner Untersuchung
dringend etwas finden wollte, um einer angeblichen Verharmlosung von Cannabis
entgegenzuwirken: "Bislang hieß es häufig, Cannabis könne nichts anrichten".
Cannabis werde allgemein als Droge mit "euphorisierendem Effekt ohne
Nebenwirkungen“ wahrgenommen.

Er kritisiert in seinem Artikel "little public awareness of the potentially
hazardous cardiovascular effects associated with the consumption of cannabis"

angesichts des relativen Risikos ist dies jedoch angebracht.

Zur Höhe des Risikos im Vergleich zu anderen Substanzen sagte Dr.
Grotenhermen.
„Wenn man über jedes Medikament sagen könnte, nachdem man es jahrzehntelang
verwendet hat, ‚wir haben jetzt die ersten beiden Todesfälle ausgewiesen’,
dann
sollte man eigentlich total begeistert sein“, erklärt der Experte. „Das werden
Sie bei kaum einem Medikament finden.“

*4. Politische Wirkung*

Politisch ist diese Studie Wasser auf die Mühlen der „Cannabis ist gefährlich“
Fraktion. Wie schon bei der „Kiffen macht dumm“-Studie wird bei ihnen sowie in
der Öffentlichkeit nur die erste Überschrift im Gedächtnis bleiben, jede noch
so
fundierte Kritik wird kaum abgedruckt und beachtet werden. Damit hat Harung
vielleicht mutwillig, aber zumindest fahrlässig zu einer Verunsachlichung der
Debatte beigetragen.

Zur Motivation von Hartung können wir nur spekulieren. Vielleicht war es
schlicht wissenschaftliche Neugier. Allerdings konnten die Wissenschaftler
ahnen
– auch aufgrund von Erfahrungen ihrer Kollegen, die sich mit ähnliche Fälle
befasst hatten – welche Medienresonanz ihre These erzeugen würde. Der Wunsch,
groß in die Öffentlichkeit zu kommen, wäre damit eine mögliche Motivation. Den
Effekt auf die politische Debatte und die Verortung ihrerselbst ist klar. In
diesem Zusammenhang möchte ich auf den Artikel „Von Hanf ist die Rede -
Anmerkungen zum wissenschaftlichen und politischen Diskussionsstand in
Deutschland“
<http://hanfverband.de/index.php/nachrichten/blog/1834-von-hanf-ist-die-rede-anmerkungen-zum-wissenschaftlichen-und-politischen-diskussionsstand-in-deutschland>
hinweisen,
in dem skizziert wird, wie sich einige Forscher in der Vergangenheit mit
großen
„Cannabis ist gefährlich“ Studien produzierten und damit zu Kronzeugen der
Prohibition aufgeschwungen haben.

Zur Dynamik der Medien bei solchen Medien siehe: So kommen Meldungen wie
“Cannabis macht dumm” zustande
<http://www.alternative-drogenpolitik.de/2012/08/30/so-kommen-meldungen-wie-cannabis-macht-dumm-zustande/>.




  • [Drogenpolitik] Tod durch Cannabis? - Eine kritische Betrachtung, Maximilian Plenert, 27.02.2014

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