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ag-drogen - [AG-Drogen] Antwort für Christiane

ag-drogen AT lists.piratenpartei.de

Betreff: Mailingliste der AG Drogen- und Suchtpolitik

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[AG-Drogen] Antwort für Christiane


Chronologisch Thread 
  • From: Guido Weyers <guidoweyers AT googlemail.com>
  • To: ag-drogen AT lists.piratenpartei.de
  • Subject: [AG-Drogen] Antwort für Christiane
  • Date: Mon, 31 Oct 2011 11:45:31 +0100
  • List-archive: <https://service.piratenpartei.de/pipermail/ag-drogen>
  • List-id: Mailingliste der AG Drogen <ag-drogen.lists.piratenpartei.de>


Hallo Christiane,
  zunächst möchte ich mich bei dir für einige relativierende und dadurch auch genauere Aussagen bedanken, mit denen ich nun mehr besser auseinandersetzen kann.
  Es gibt jedoch nach wie vor Aussagen die ich ganz anders sehe als du. Im Einzelnen.
 
Ich wollte dich und deine Arbeit nicht persönlich angreifen. Im
Gegenteil die Sozialarbeiter "an der Front" leisten gute Arbeit und
stehen oft auch sehr hinter ihrer Arbeit. Aber genau deshalb sollte
man seine Augen nicht vor dem verschließen, was teilweise in diesem
Bereich passiert.  Ich habe mich nur gefragt, warum sich Drogen- bzw.
Alkoholtherapien so von anderen Therapien unterscheiden. Vielleicht
kannst du mir da ja auch weiterhelfen.

>>> Ich arbeite zwar überwiegend mit Sozialarbeitern und Sozialpädagogen zusammen, bin selbst jedoch Dipl.-Psychologe mit einer verhaltenstherapeutischen Zusatzausbildung als
Suchttherapeut. Ich habe in meiner beruflichen Laufband Langzeittherapie mit drogenabhängigen Jugendlichen gemacht und mache nun ambulante Drogentherapie mit erwachsenen Alkoholikern. Ansonsten arbeite ich überwiegend beratend,auch weil das weitaus weniger anstrengend ist.
Ich persönlich denke, dass sich inhaltlich Drogen- und Alkoholtherapie untereinander nicht sehr voneinander unterscheidet. In der Prävention gibt es z.B. den suchtmittel-, generations- und geschlechtsübergreifenden  Ansatz SKOLL,
der nicht so sehr als Therapie für Abhängige konzipiert wurde, sondern ein hochgradig wirksames Präventionsprogramm ist.  www.skoll.de Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen Alkol- und Drogentherapie und anderen Therapien. Dieser ist jedoch meiner Meinung nach nicht im Zwang bzw. Nicht Zwang begründet, da der überwiegende Teil der Menschen, die Probleme mit Alkohol- und Drogen haben, freiwillig zu uns kommt. Ich schätze das ungefähr 10-20 % zu uns kommen, weil sie eine so genannte Auflage haben (krankenkasse, Bewährungshelfer, Therapie statt Strafe ect.). Niedergelassen Psychotherapeuten nehmen einfach sehr ungerne Alkohol und Drogenabhängige, weil diese einen "schlechten Ruf" haben, als unzuverlässig gelten und die Aussicht auf Therapieerfolg vergleichsweise gering ist. Das ist leider die Praxis. Zu mindestens 1/3 aller Termine die wir in der Woche vergeben erscheinen die Betroffenen gar nicht. Ich verstehe dies jedoch, da ein Besuch in einer Beratungsstelle häufig mit großer Scham verbunden ist und für mich Unzuverlässigkeit auch ein häufiges Symptom der Sucht sein kann. Man gewöhnt sich im Laufe der Zeit daran.

Durch die Prohibition hast du quasi keine Entscheidungsfreiheit. Laut
Gesetz musst du dich irgendwann für die Abstinenz oder
Abstinenztherapie entscheiden. Selbst die Methadonprogramme zwingen
den Patienten irgendwann zu einem Entzug oder einer Therapie (es sei
denn du bist Privatpatient). Viele Süchtige verschwenden Jahre im
Wechsel von Szene zu Therapie – Szene etc. – das Selbstbewusstsein
wird immer schlechter, bis sie am Ende ganz unten sind.

>>> Ich hier würde das folgendermaßen differenzieren. Insbesondere die Kriminalisierung von Heroin sehe ich hier als Hauptproblem, da sie zu häufiger Beschaffungskriminalität führt, deshalb bin ich auch für eine Freigabe von Heroin unter ärztlicher Aufsicht. Ich sehe jedoch auch noch ein anderes Problem. In Potsdam gibt es zum Beispiel nur einen einzigen substituierenden Arzt der nicht mehr als 4 Patienten aufnimmt. Alle anderen müssen entweder nach Berlin oder sich ihr Polamidon oder Methadon auf der Straße illegal beschaffen. Ich kann mir vorstellen, dass dies in anderen Städten und Bundesländern ähnlich schlimm ist. Ich würde deshalb auch eine flächendeckende Versorgung mit substituierenden Ärzten fordern. Das Problem ist allerdings, dass es leider nicht viele Ärzte gibt, die das machen (wegen Vorurteilen ect.). Meine Erfahrung in 7 Jahren Therapie ist, dass insbesondere bei Heroinabhängigen die Rückfallquote am höchsten ist. Ich kann mir das in erster Line mit dem hohen Abhängigkeitspotential von Heroin erklären. Vielleicht gibt es aber auch noch andere Gründe. Nach meinen Recherchen im Netz liegt die Rückfallquote zwischen 60 und 90%. Eine Studie von Körkel http://www.rueckfall-programme.de/download/pdf/rp_abhaenigkeiten.pdf habe ich gefunden, da liegt sie im Schnitt bei 70-80%.
 
Für meine Ansichten kann ich dir keinen Link zu Studien oder Artikeln
geben – und genau das ist das Problem – deshalb kam das ganze für dich
vielleicht pauschalisierend an. Meine E-Mail bezog sich komplett auf
die Erzählungen von Klienten und Suchttherapeuten, die in diesem
Bereich arbeiten. Und ehrlich, teilweise war ich wirklich geschockt
von den Erzählungen! Dazu gibt es kein Material, da niemend wagt
Kritik zu äußern.

>>> Es gibt zu dem gesamten Komplex viele Studien. Ich weiß natürlich nicht, was die Betroffenen und Suchttheraputen dir alles erzählt haben. Ich habe das Gefühl, dass es sehr einseitig ist. Ich weiß, dass insbesondere bei der Langzeittherapie viele Kollegen oft sehr frustriert sind, gerade weil sie Rückfälle ihrer Klienten als eine persönliche Niederlage begreifen, was es aber natürlich nicht ist. Rückfälle gehören zum ganz normalen Prozeß der Gesundung.
Ich bemühe immer den Vergleich mit dem reiten lernen. Manche fallen dabei mehr andere weniger oft vom Pferd, aber prinipiell können es alle schaffen zufrieden reiten zu lernen (zufrieden abstient zu werden). Ich persönlich sehe in der Kriminalisierung illegaler Drogen bei abhängig Erkrankten nicht die Ursache der niedrigen Therapieerfolge, sondern eine unverhältnismäßige Verschärfung ihrer sozialen Situation, was natürlich auch alles andere als gut ist. Nur zu glauben, dass durch eine freie Verfügbarkeit von harten Drogen die Süchtigen plötzlich keine Probleme mehr haben und wie von Geisterhand plötzlich, weil sie problemlos konsumieren können, ihre Sucht und alle negativ damit einhergehenden Konsequenzen verlieren würden, ist vollkommen unrealistisch und in meinen Augen sogar gefährlich naiv. Die Ursachen, weshalb es jemand nicht schafft seine Sucht zu besiegen. liegen vielmehr in einer Vielzahl von Faktoren als da z.B. wären: der Stärke/dem Suchtpotential der Drogen, mangelnden Ressourcen, Mangel an einem stärkenden Umfeld, massive innerpsychische Probleme (z.B. Traumatisierungen), mangelnde Therapiemotivation oder dem drogenkonsumierenden Umfeld.

Erst einmal hat ja jeder Therapeut mit der Prohibition zu kämpfen. Ich
habe mit Suchttherapeuten gesprochen, die meinten, sie könnten
momentan nur im niedrigschwelligen Beriech arbeiten, da sie durch die
Prohibition, die Leute in Bezug auf Therapien gar nicht ehrlich
beraten könnten. Die Entscheidung für eine Therapie fängt ja mit einer
Frage an:" Willst du wirklich damit aufhören? Finde für dich den Weg
der am besten ist." Das ist ja durch die Prohibition nicht gegeben.

>>> Wie gesagt für meine therapeutische Arbeit waren es in der Regel andere Dinge als die "Prohibition" (präziser die Kriminalisierung illegaler Drogen), die Probleme bereiteten. Es war vielmehr die zu Beginn mangelnde Therapiebereitschaft, die Schwierigkeiten jemanden zu einer Therapie (insbesondere Jugendliche) zu bewegen. Sehr viele haben ihre Therapie auch abgebrochen, was in der Regel juristisch viel weniger Konsequenzen hatte, sondern viel mehr soziale und individuelle Probleme. Ich verstehe nicht wie ich nicht ehrlich beraten könnte. Ich berate immer ehrlich und da hat auch niemand irgendetwas zu befürchten. Jeder Therapeut und Berater unterliegt der Schweigepflicht, durch die er nur entbunden werden kann, wenn der Klient ihn davon entbindet oder Gefahr im Verzug ist. Die Entscheidung für eine Behandlung kann sehr unterschiedlich sein. Manche wollen es alleine schaffen und wollen nur ein paar Beratungsgespräche, andere wollen ihren Konsum einfach nur reduzieren (SKOLL) und wieder andere wollen völlig abstinent leben (denen empfehlen wir dann eine Therapie). Viele brauchen auch erst mal eine lange Zeit bis sie sich zu irgendeinem Schritt entscheiden. Wir haben tatsächlich für die Meistens immer ein passendes Angebot. Da gibt es in der Regel kein Problem.

Im Drogenbereich, gibt es das Angebot "Therapie statt Knast". Dadurch
nehmen viele Leute oft nicht wirklich freiwillig an einer Therapie
teil. Natürlich, wenn die Therapeuten gut sind, nehmen sie sicher
etwas daraus mit  – aber das ist leider nicht immer so.

>>> Genau genommen heißt es Therapie statt Strafe.§35 BTMG. In der Tat nehmen diese Betroffenen nicht freiwillig an der Therapie teil und ich selber habe die Erfahrung gemacht, dass sich nur wenige auf den therapeutischen Prozess einlassen können. Aber ist es nicht irgendwie auch ein Entgegenkommen des Staates Menschen diese Möglichkeit zu eröffnen? Wenn er/sie zum Beispiel unter Drogeneinfluß ein Gewaltverbrechen, Mord, Diebstahl ect. verübt hat, so gilt der Drogenkonsum ja in diesem Fall in der Regel als strafmildender Umstand und kommt dadurch dem Straftäter bezüglich des Strafmaßes zugute. Nicht jede Straftat im Zusammenhang mit Drogen ist außerdem Beschaffungskriminalität. Ich frage mich auch wie die die Opfer der Strafentaten von Tätern unter Drogeneinfluß zu "Therapie statt Strafe" stehen?       
 
Meine Kritik bezog sich auf Therapieformen, die wirklich viel mit
Zwang (Zwang auf alle Klienten nicht nur Straffällige) arbeiten. Als
krasses Beispiel nenne ich dir "Synanon" – die ich als Sektenartig
bezeichne. Auch bei den Anonymen Alkoholikern kann ich mich dieses
Eindrucks nicht erwehren. Wobei das ist jetzt wirklich meine
subjektive Wahrnehmung ist. Ich frage mich – muss das wirklich so sein?

>>> Synanon und die AA sind keine Therapieformen, sondern Selbsthilfeeinrichtungen. Therapierichtungen/formen sind z.B. "Verhaltenstherapie, Psychoanalyse, sytemische Therapie, Psychodrama, Gestalttherapie usw. Man könnte darunter eventuell auch verstehen, ob jemand eine ambulante Therapie und stationäre Therapie macht. Für welche Therapieform sich jemand entscheidet ist ihm absolut frei gestellt. Es ist gerade unsere Aufgabe in den Beratungsstellen dort kompetent zu beraten. Man kann sich über die Methoden von Synanon und AA streiten. Ich finde es teilweise auch fraglich was dort geschieht. Nichtsdestotrotz gehen dort die Abhängigen in der Regel freiwillig hin (deshalb Selbsthilfegruppe), die für sich erkannt haben, das sie einen extrem engen und struckturierten Rahmen brauchen, weil sie in der "normalen Gesellschaft" nicht mehr klar kommen bzw. "funktionieren". 
 
Generell landen ja in diesen Therapien meistens Härtefälle. Oft auch
Leute, die ihre Verantwortung gern mal auf die Droge abschieben. Es
ist halt einfacher, als sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Aber
angesichts der Prohibition ist es für einen Therapeuten schwer, die
Leute argumentativ auf sich selbst zurückzuverweisen.

>>> Von welcher Verantwortung redest du? Verantwortung für die eigenen Probleme?
Nochmal. Sucht kann man nicht einfach, monokausal erklären. Manche meiner Betroffenen haben mir erklärt, dass sie süchtig geworden sind, weil es ein traumatisches Erlebnis in ihrem Leben gab (z.b. eine Vergewaltigung) und die Droge dabei geholfen hat, dass sie den Schmerz nicht mehr spüren mußten (also klassische Verdrängung), andere sind in ein drogenkonsumierendes Umfeld geraten, wollten dazu gehören und haben, ohne sich über die entsprechende Droge zu informieren, einfach mitkonsumiert. Nochmals. Die von dir so oft zitierte Prohibition hält mich und keinen der von mir bekannten Therapeuten davon ab unsere qualifizierte Arbeit zu leisten. Sie erschwert sie höchstens in bestimmten Fällen, wie z.B. die oben beschriebene Mangelsituation von substituierenden Ärzten.  

Ich persönlich würde mich freuen, wenn du als Suchttherapeut 3 Villen
verdient hättest .. das wär dann mal ein korrekter Verdienst ... Aber
so geht es den meisten. Man leistet gute Arbeit, steht auch hinter
seiner Arbeit .. aber das Geld stecken sich andere ein. Ich habe hier
in Hamburg zur Schill und CDU Zeit den Kampf um den Therapieetat
miterlebt. Hier mussten wirklich gute kleine Einrichtungen (die von
der politischen Meinung nicht so genehm waren) geschlossen werden,
zugunsten von 2 grossen Einrichtungen. Es bilden sich große
bundesweite Einrichtungen, die auch funktionieren wie ein großes
Unternehmen. Teilweise erinnern ja schon die Namen an Großkonzerne
(siehe Therapiekette Nord). Das ist das, was ich in Frage stelle und
nicht die Arbeit von euch Streetworkern oder Sozialarbeitern. Ich kann
mir vorstellen, dass ihr mit vielen Dingen auch nicht einverstanden
seid. Und das sollten wir ändern ...

>>> Dazu kann ich nicht viel sagen. Ich habe von solchen bundesweiten Einrichtungen noch nie gehört.
In Berlin und Brandenburg gibt es eine Vielzahl verschiedener Träger, die für ein ausgesprochen vielfältiges Angebot sorgen.
Der größte Träger hier ist der Tannenhof, aber daneben gibt es es vielleicht noch 40 - 50 andere Einrichungen.
Wie das in anderen Bundesländern ist weiß ich nicht. Wahrscheinlich muß man da auch ganz genau unterscheiden, um was für Einrichutngen
es sich handelt und was sie anbieten. An deine Großkonzerntheorie glaube ich nicht. Therapiekette Nord habe ich im Internet nicht gefunden.
Hast du Belge dafür oder handelt es sich um eine Vershwörungstheorie?

Ja, meine E-Mail war vollkommen subjektiv, da sie auf Aussagen
Betroffener beruht. Aber ich finde, wir sollten überlegen, was
verbesserungswürdig ist. Ja es gibt viele Therapieangebote – aber
wieviel bringen sie für den Einzelnen. Können Menschen unter den
herrschenden Gesetzen überhaupt ehrlich therapiert werden?
Sie sollte aber nicht die Arbeit der Sozialarbeiter/Therapeuten an der
Front schlecht machen.

>>> Tja, mich würde jetzt abschließend schon mal interessieren, was du konkret für verbesserungswürdig häls? So genau habe ich da leider nichts rausgehört.
Ich finde, dass vor allem im präventiven Bereich sehr viel mehr passieren müßte. Nicht nur mehr und bessere Programme für Betroffene, sondern viel mehr Aufklärung
in der Normalbevölkerung und besonders ein Imagewechsel des Alkohols, ähnlich wie er in den letzten Jahren bezüglich des Nikotins erfolgt ist. Meiner Meinung nach können
Menschen mit Suchtproblemen in unserem Land sehr gut therapiert werden. Ich möchte z.B. nicht in Ländern wie der Ukraie und Russland leben und ein Suchtproblem haben.

So, ich habe mich also dafür entschieden mich hier weiter einzubringen und hoffe auch weiterhin hier für meine Expertise als im Suchtbereich arbeitender Therapeut und Berater
geschätzt zu werden.

Gruß and Christiane und die andern.

Guido



  • [AG-Drogen] Antwort für Christiane, Guido Weyers, 31.10.2011

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